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Ostern 1823 wurde ich Custos an der königl. und Universitäts-Bibliothek zu
Breslau. Das neue Amt nahm mich so sehr in Anspruch, daß ich in der ersten Zeit
an keine eigenen Studien, ans Dichten erst gar nicht denken konnte. Ich war
anfangs täglich zu sieben Amtsstunden verpflichtet und es gab des Arbeits vollauf
. Nach Jahr und Tag wurde meine Stellung erträglicher. Durch die vertraute
Bekanntschaft mit der Bibliothek und dem Geschäftsgange wurde mir jede Arbeit
leichter. Nach und nach fand ich wieder etwas Muße für sprachliche und litterar-
historische Forschungen. So begann ich denn auch von neuem das Studium der
Hebel'schen Poesie. Ich wußte mir alle Ausgaben von Hebel's Gedichten, sogar
alle Nachdrücke und Uebersetzungen zu verschaffen. Dann und wann entstand
wieder ein allemannisches Lied. Ich war mit einer Amtsthätigkeit ausgesöhnt, die
täglich meine meiste Zeit in Beschlag nahm und Jahr aus Jahr ein weiter keine
Erholung gestattete, als die wenigen Tage kurz vor und nach den hohen Festen.
Ich begreife heute noch nicht, wie ich in der einmal begonnenen Bibliotheks-
Laufbahn, die doch so ganz anders war als ich mir von Jugend auf gedacht hatte,
so geduldig ausharren konnte. Ich war wie ein gefesselter Prometheus, der Dienst
war der Geier, der mir stündlich ein Stück meines besseren Lebens wegpickte. So
waren nun schon mehrere Jahre vergangen. Endlich erhielt ich im Jahr 1826 einen
vierwöchentlichen Urlaub zu einer Reise in meine Heimath. Nicht leicht ward je
fröhlicher eine Reise begonnen. Ich blieb die ganze Urlaubszeit bei den Meinigen
und lebte wieder auf in den Erinnerungen an meine Kinder- und Studentenjahre.
Ich suchte meine allemannischen Lieder hervor, sie gefielen mir immer noch; ich
glaubte die Freude, die sie mir machten, auch anderen gewähren zu dürfen: ich
ließ sie in einer benachbarten Druckerei drucken. So war ich denn als alleman-
nischer Dichter aufgetreten, zwar nicht öffentlich, auch nicht mit meinem Namen,
aber doch im Kreise meiner Freunde und Bekannten, denn nur für diese war das
Büchelchen bestimmt. Die kleine Sammlung hatte wider Erwarten auch anderswo
freundliche Aufnahme gefunden, und ich fühlte mich veranlaßt, im folgenden
Jahre eine neue Auflage zu veranstalten, der ich noch einige neuere Lieder und
auch ein kleines Wörterbuch hinzufügte. Im Jahre 1833 erfolgte die dritte Auflage
und das Jahr darauf veranstaltete ich einen neuen Abdruck in der bei Brockhaus
erschienenen Sammlung meiner Gedichte.
Durch das fortgesetzte Studium der Hebel'schen Sprech- und Ausdrucks weise
war ich fester und sicherer geworden in dem eigentlich Sprachlichen, dennoch
konnte ich mir über vieles keine Rechenschaft geben, und selbst nachdem ich als
Professor über Hebel ein eigenes Heft mir ausgearbeitet hatte und öffentliche
Vorlesungen hielt, war meine grammatische Kenntniß des Allemannischen noch
immer lückenhaft und unbefriedigend. Es war und blieb daher mein sehnlichster
Wunsch, an Ort und Stelle diese Kenntniß zu erweitern und fester zu begründen.
Als ich nun diesen Sommer von Dresden aus eine Sammlung meiner Gedichte in
Leipzig bei Weidmanns veranstaltete, nahm ich absichtlich die allemannischen
nicht mit auf; ich hegte den Wunsch, sie der Mundart des Wiesenthals so zu
nähern, als es nur irgendmöglich sein würde. Dieser Wunsch ist mir gelungen. Ich
reiste von Mannheim, wo ich einige Zeit verweilte, über Straßburg und Basel
hieher, ins Wiesenthal. Ich fand die bereitwilligste Unterstützung. Herr Rechtsanwalt
Euler war so gütig, mir über die Aussprache und Formenlehre, und die
Bedeutung der Wörter genügend Auskunft zu ertheilen und selbst meine früheren
und einige neueren allem. Gedichte streng durchzugehen, um ihnen ein mundartliches
Gepräge zu geben, das kein Sprachforscher noch ein Eingeborener hinfort
anfechten kann. In dieser neuen Gestalt, in dieser sprachlichen Gesichertheit übergebe
ich nun mit vollständigeren Worterklärungen meine Sammlung der deutschen
Welt und wünschte, daß sie auch dort Theilnahme finde, wo sie bis jetzt als eine
Heimathlose betrachtet worden ist.
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