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C. Die Entwicklung des Handwerks im 19. und 20.
Jahrhundert
/. Jüngere Geschichte des Handwerks in Baden
Mit Beginn des 18. Jahrhunderts machten sich in der Politik der Fürsten allgemein
merkantilistische Einflüsse bemerkbar. Diesen Bestrebungen stand jedoch
die kleinliche Gesinnung der Zünfte entgegen. Statt sich als Träger dieser Politik
zu verstehen, sahen sie ihre Aufgabe in der kurzsichtigen Fernhaltung jeder Konkurrenz
innerhalb des Handwerks. Durch Eingreifen der Landesherren sollten
in der Folgezeit die Zünfte auf gewisse soziale und kulturelle Aufgaben beschränkt
werden.74) Diese Entwicklung ging jedoch nur sehr langsam voran, da die Zünfte
sich mit aller Macht und Mißachtung der obrigkeitlichen Gebote gegen diese Einschränkungen
zur Wehr setzten. Die beginnende Industrialisierung brachte
neue Impulse und machte die Neuorganisation des Handwerks endgültig notwendig
.
Während andere Landschaften sehr viel stärker von einem beengenden
Zunftzwang betroffen waren, hatte sich das Markgräflerland schon früh mit
seinen weitgefaßten Zunftverbänden als besonders fortschrittlich im Hinblick auf
eine kommende Entwicklung der Wirtschaftspolitik des 19. Jahrhunderts erwiesen
.75) Wenn in Baden die Gewerbefreiheit 1862 dennoch verhältnismäßig
spät eingeführt wurde, kurz vor der allgemeinen Gewerbefreiheit im gesamten
Reich 1869, so lag dies an der bisherigen Funktionstüchtigkeit des Handwerks
und der noch nicht sehr stark ausgeprägten Industrialisierung. Die zwischen
Gewerbefreiheit und Schutz des Handwerks schwankende Regierung mußte sich
jedoch auch hier der wirtschaftlichen Neuentwicklung anschließen. Zunächst wollte
man das durch die Unruhen von 1848/49 und die wachsende Industrialisierung
gefährdete Handwerk durch Gewerbeförderung unterstützen. Die staatlichen Behörden
in Baden förderten vor allem die Hausindustrie, weniger, um ausdrücklich
eine alte Gesellschaftsstruktur zu erhalten, als um die Leute an ihre bisherigen
Siedlungsgebiete zu binden und um Zusammenballungen in Fabriken und Städten
zu vermeiden.76)
Man versuchte es zuerst mit der direkten Förderung durch Geldzuwendungen.
Dies jedoch erwies sich als eine Fehlplanung, da geldliche Hilfen an einzelne Handwerker
immer nur vorübergehend Erfolg hatten.
Die Förderung des „Gewerbefleißes" durch Erziehung der Bevölkerung zur
Industrie gehört seit dem späten 18. Jahrhundert überall in Deutschland zur
inneren Politik der Landesherren. Die Einrichtung von Industrie -und Zeichenschulen
sind ein bevorzugtes Mittel dazu. Sie sollen der ländlichen Bevölkerung
die Möglichkeit geben, einen Nebenerwerb zu lernen, oder dem Handwerksgesellen
eine bessere Ausbildung in seinem Beruf zu vermitteln.
1834 werden die ersten Gewerbeschulen im Großherzogtum Baden errichtet.
„Die Gewerbeschule hat den Zweck, jungen Leuten, die sich einem Handwerk oder
Gewerbe widmen, welches keine höhere technische und wissenschaftliche Ausbildung
erfordert, diejenigen Kenntnisse und graphischen Fähigkeiten beizubringen,
die sie zum verständigen Betrieb dieses Gewerbes geschickt machen." 7T) Im Unterschied
zu allen früheren Zeichen- und Industrieschulen muß der Lehrling die Gewerbeschule
besuchen. Damit ist Baden eines der ersten deutschen Länder, das die
obligatorische Berufsschule einführte.
Der neuen freiheitlichen Ordnung des Großherzogtums Baden zufolge trat nun
im Land eine umfassende Reformgesetzgebung in Erscheinung. Ein eigenes Handelsministerium
wurde bereits 1860 errichtet. In gemeinsamer Arbeit von Regierung
und Volksvertretung entstanden ein Gewerbegesetz und eine Gewerbeordnung.
Diese trat mit der Gewerbefreiheit 1862 in Kraft.78)
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