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weise dieser „Renaissance" aufgezählt und geschildert werden, ist ein buntes
Gemisch. Mundarttheater,, Veröffentlichung von Gedichten, Übersetzungen von
Bibel und „Faust" ins Platt, aber auch von einem Dialekt in den anderen, Volks-
hochschulkurse in Platt, Universitätsvorlesungen über kölnische Mundart, kirchliche
Handlungen, politische Manifeste und Plakate im Dialekt, Ermunterungen
von Behörden, man könne sich in den Ämtern des Dialekts bedienen, schließlich
auch ideologisch motivierte Verteidigung der Sprache des Volkes als Sprache der
Basis. Der Reporter führt in seinem Bericht gelehrte Bemühungen wie Wörterbücher
in einem Atem mit Stammtischbräuchen oder Dialektäußerungen von
Politikern an. Ihm kommt es nicht auf die Unterschiede zwischen gut erhaltenen
Mundarten und den reich abgestuften Mischformen aus Dialekt und Hochsprache
an: er nennt „Dialekte" alles, was als Umgangssprache sich von der Hochsprache
abhebt. Seine Beispiele zeigen zwar, daß vor allem die südlichen und nördlichen
Randgebiete an dieser Selbstbehauptung der Mundart am stärksten beteiligt
sind, also jene schon erwähnten großen Zonen, in denen bis in die Städte hinein
ohne Unterschied der sozialen Schichtung noch heute Dialekt zu sprechen Gewohnheit
ist. Doch auch diese nehmen, wie das Beispiel der Mundartmanifeste und
-plakate in der Auseinandersetzung um das Atomkraftwerk in Wyhl illustriert,
bewußt an den Bemühungen teil, die Geltung und den Wert der volksmäßigen
Sprache gegenüber der Hochsprache, wie die Behörden sie vertreten, zu demonstrieren
. So ist eine oft unterschwellige politische Protesthaltung ohne Zweifel eine
Komponente der „Mundarten-Renaissance". Renaissance ist diese Bewegung
höchst disparater Elemente allgemein als Rückwendung zu einem elementaren
Leben, Rückzug aber auch in einen geschlossenen, vertrauteren Umkreis, der sich
schon durch die besondere Sprache nach außen abschirmt, schließlich betonte Abkehr
von der als verschliffen und konturlos empfundenen Hochsprache, Äußerung
der zivilisationsfeindlichen, naturgläubigen, der Technik abholden (und doch'
auf sie angewiesenen) spätromantischen Neigung unserer Tage.
Politisch motivierte Bestrebung, die Mundart zu stärken, kann völlig frei sein
von jener emotionalen Nostalgie. Dafür ist die deutschsprachige Schweiz während
der Herrschaft des Nationalsozialismus, besonders in der Kriegszeit ein Beispiel.
Hier fand die Tendenz, sich von dem bedrohlichen Nachbarn, mit dem man bei
aller Ablehnung seiner Ideologie durch das gleiche Idiom verbunden blieb, abzugrenzen
, Ausdruck in einer bewußten, oft forcierten Betonung der auch sprachlichen
Besonderheit und Eigenart. Weite Bereiche des öffentlichen Lebens in
Politik, Gerichtsbarkeit, Schule und Kirche, in denen bis dahin meist die Hochsprache
üblich gewesen war, wurden für die Mundart zurückgewonnen. Die
Wirkung war nachhaltig. Bis heute hat der Dialekt diese ursprünglich politisch
motivierte Position behalten. Regionalistische Bewegungen, die etwa in Frankreich
in der Provence und Aquitanien an die romantisch-literarische Felibrige anknüpfen
, zeigen dazu gewisse Parallelen, sind aber — wie auch in der bretonischen
Region — ohne solche Erfolge geblieben.
Eine ausgeprägte Form der Erhaltung und Stärkung der angestammten
Mundart — sie spielt in der „Spiegel"-Dokumentation charakteristischerweise
keine Rolle — sind die Bestrebungen zur Reinhaltung des Dialekts. Sie setzen
im Vergleich zu der teils emotional, teils modisch motivierten Wiederbelebung der
Mundarten mit ihren sozialen und politischen Komponenten einen höheren Grad
von Bewußtsein voraus. Dem Willen, Mundart in reiner Form zu pflegen, liegt
eine Auffassung vom Dialekt als der eigentlichen, der Überlieferung entsprechenden
, deren Werte bewahrenden und schöpferisch erneuernden ausdruckskräftigeren
Sprache — als Muttersprache im betonten Sinn — zugrunde. So verbindet sich
mit diesem, Aktivitäten anregenden und anspornenden Willen immer eine gewisse
Programmatik, die ohne vorgängige und begleitende Reflexion nicht denkbar
ist. Träger solcher Bestrebungen sind nicht zufällig Schulen und Volkshochschulen
, die ihre Förderung des Dialekts in didaktische Methoden umsetzen und
sich auch der publizistischen Verteidigung des „Erbes" und der Werbung für ihr
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