http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/mgl-1976-03-04/0019
Sprachlich gesehen ist die Ostzone am besten gegen Fremdländisches abgeschirmt,
da das Deutsche mit dem Russischen nicht direkt verwandt ist. Ganz anders liegen
aber die Dinge in Westdeutschland, wo sich Wörter und Wendungen aus der
englischen Schwestersprache spielend ins Deutsche einschleichen, zumal eine offensichtliche
Modesucht, ja eine echt deutsche Schwäche für alles Ausländische, die
Aufnahme und Assimilierung englisch-amerikanischen Lehnguts krankhaft steigert.
Auf Grund einer alten Entlehnungsgewohnheit, die auf die Glanzzeit von Versailles
zurückreicht, findet auch noch das Französische beim Deutschsprechenden
Anklang, allerdings in geringerem Maße als früher. Im heutigen Westdeutschland
ist es nicht mehr so sehr „Mode französisch zu parlieren", sondern eher „up to date
englich-amerikanisch zu spoken".
Besonders auf den Gebieten der Technik und des Sports bürgern sich angelsächsische
Lehnwörter massenweise im Deutschen ein. Wohl hat noch niemand
zwischen Rhein und Oder die sprachreinigende Feder gezückt, so wie es Sorbonne-
Professor Etiemble in seinem notbremsenden Buch „Parlez-vous franglais?" getan
hat, allgemein beklagen sich aber die Deutschen über die „englische Krankheit",
die früh oder spät bekämpft werden muß, wenn die edle Sprache Luthers und
Goethes ihre Eigenheit als große Kultursprache nicht einbüßen will.
Und wie steht es nun mit den deutschen Mundarten?
Im deutschsprachigen Raum ist der Bruch zwischen Amtssprache und Mundart
nicht so ausgeprägt wie z. B. in Frankreich oder in England. Bis zum Ende des
letzten Weltkrieges hatten sich die deutschen Dialekte in ihren ziemlich scharf abgegrenzten
Gebieten gut halten können.
Nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches und den verheerenden geographischen
und wirtschaftlichen Kriegsauswirkungen kam eine entscheidende
Wende. Es setzte eine Flüchtlingsbewegung aus dem Osten nach Westen ein, die
in ihrem Ausmaß und ihrem sprachlichen Niederschlag mit der germanischen Völkerwanderung
verglichen werden kann. Mehr als 10 Millionen Vertriebene wurden
in der Bundesrepublik frisch angesiedelt. Hinzu kamen noch zahllose politische
Flüchtlinge aus Zentral- und Osteuropa. All diese Heimatlosen mußten trotz
verschiedenartiger sprachlicher Herkunft über den gesamten westdeutschen Raum
verteilt werden, der kaum der Hälfte des Vorkriegsdeutschland entspricht.
Auf fünf Bundesdeutsche zählt man wenigstens einen Flüchtling. Hinzu kommen
die wirtschaftlich bedingten binnendeutschen Bevölkerungsverschiebungen, so
daß beinahe ein Drittel der Westdeutschen entwurzelt bzw. neuangesiedelt sind.
Ein solches ethnologisches Erdbeben führt durch die bunte Mischung und Kreuzung
vieler Stämme eine tiefgreifende sprachliche Nivellierung auf Kosten der Mundarten
mit sich.
Was die ostdeutschen, von den Verpflanzten gesprochenen Dialekte anbelangt,
so lösen sie sich allmählich in den westdeutschen auf, zumal ihre Träger nicht in
geschlossenen Gemeinschaften leben, sondern meist als vereinzelte Familien. Aus
Heimweh haben sie wohl überall Vertriebenenvereinigungen gegründet, um
miteinander das Angestammte, sowohl Überliefertes als auch Sprachliches, weiterhin
zu hegen und zu pflegen. Wenn es aber an der unentbehrlichen Muttererde
fehlt, gehen selbst sorgsamst betraute Gewächse ein. Wohl sprechen die verpflanzten
Ostdeutschen ihre jeweilige Mundart unter sich, zuhause und auf der gemeinsamen
Arbeitsstelle, aber im Verkehr mit Westdeutschen müssen sie umschalten.
Anders wäre es, wenn ganze Volksgruppen oder Stämme geschlossen umgesiedelt
worden wären.
In rein ländlichen, d. h. in mundartlich noch stark ausgeprägten Gegenden haben
es die Flüchtlinge, besonders die älteren, sprachlich gesehen, nicht leicht. Das
konservative Element des Ostdeutschen ist die umgesiedelte Frau, die zuhause
bleibt. Der Mann hingegen, der hinaus muß „ins feindliche Leben" — wie Schiller
sagte —, paßt sich der neuen Umwelt schneller an. Die jüngere Generation, die
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