http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/mgl-1976-03-04/0021
All diese verschiedenen hochdeutschen Regionalsprachen werden aber noch lange
Zeit sowohl phonetisch als auch lexikalisch bestimmte Merkmale haben, die sich
noch deutlich voneinander halten. Wird es überhaupt jemals gelingen, sie auf den
gemeinsamen Nenner zu bringen, den das mustergültige Hannoverische vorschlägt?
Dies wird um so langfristiger sein, als in anderen kulturellen Weltsprachen, die
auf einer älteren Entwicklung fußen, die angestrebte Vereinheitlichung immer
noch nicht vollzogen ist. So ist in Frankreich z. B., das doch einem herrischen
Zentralismus einen fünfhundertjährigen sprachlichen Vereinheitlichungsprozeß zu
verdanken hat, ein Pariser, ein Liller oder ein Marseiller an seinem Akzent immer
noch leicht zu erkennen.
In Deutschland hört man selbst den Gebildeten ihre geographische Herkunft an,
auch wenn sie in besseren, der derben Mundart abholden Kreisen aufgewachsen
sind. Ein echter Münchner Universitätsprofessor wird in einem anderen Deutsch
lesen als etwa ein Hamburger Fachkollege, hauptsächlich in phonetischer Hinsicht,
zum Teil aber auch semantisch. Dieser Unterschied wird jedoch immer geringer,
abgeschwächt durch Wandel und Austausch innerhalb der Bevölkerungs-Stämme
und Schichten.
örtliche Wörter und Ausdrücke werden verschleppt, schlagen frisch aus und
blühen auf dem gesamtdeutschen Gebiet, andere gehen ein. Phonetische Ungleichheiten
schleifen sich allmählich ab, zumal Rundfunk und Fernsehen als Planierungs-
faktor eine immer wichtigere Rolle spielen. Die verschiedenen Dorfmundarten
werden sich allmählich zu Regionalsprachen abrunden, die sich ihrerseits in provinziellen
Umgangssprachen auflösen werden. Letztere werden schließlich der amtlichen
Schriftsprache immer näher kommen. Dieser Prozeß ist in Norddeutschland
schon viel weiter voran als in Süddeutschland. Aus statistischen Studien, die in
letzter Zeit in Westdeutschland angestellt wurden, geht hervor, daß im Norden
in den Städten mehr Hochdeutsch gesprochen wird als im Süden und daß Frauen
und Mädchen, wenn sie werktätig sind, im allgemeinen schneller und leichter umschalten
als Männer und Burschen. Bei der Schuljugend wird dieselbe Feststellung
gemacht: die jungen Mädchen haben ein größeres sprachliches Anpassungsvermögen
als die Knaben.
Von den norddeutschen Schulkindern sprechen übrigens schon 65 Prozent Hochdeutsch
und nur noch 10 Prozent Mundart; 25 Prozent sind zweisprachig. In
Süddeutschland hingegen sprechen erst 20 Prozent ausschließlich Hochdeutsch, die
übrigen 80 Prozent hängen noch an der Mundart, obwohl mehr als 50 Prozent
davon in der Stadt wohnen.
Die Ergebnisse einiger jüngst in Volksschulen gehaltenen Umfragen beweisen
ferner, daß die Flüchtlingskinder sich lieber in der Hochsprache ausdrücken als in
der örtlichen Mundart. Somit tragen sie entscheidend dazu bei, das Neuhochdeutsche
zu verbreiten.
Da nun die ärmliche Mundart die Hochsprache nicht mehr mit Wörtern und
Ausdrücken speisen kann, sondern eher aus ihr entlehnen muß, namentlich moderne
technische Begriffsträger, rückt sie der Amtssprache immer näher.
Was sich in den letzten 70 Jahren in Nord- und Nordostdeutschland vollzogen
hat, nämlich das langsame Zurückweichen der Mundart der sozial Schwächeren vor
der gehobenen Sprache der sozial Überlegenen, das geschieht heute in unvorstellbarem
Tempo in West- und Süddeutschland.
Also dürfte es mit der Zeit soweit kommen, daß im ganzen deutschen Sprachraum
trotz anfänglicher mosaikartiger Mundartvielheit doch einmal ein einheitliches
, genormtes, in der sog. Ostzone sogar „reines" Deutsch gesprochen wird.
J. P. HEBEL: „Ich kann in gewissen Momenten in mir stolz werden und mich bis zur
Trunkenheit glücklich fühlen, daß es mir gelungen ist, unsere sonst so verachtete und
lächerlich gemachte Sprache klassisch zu machen und ihr eine solche Celebrität zu erringen."
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