http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/mgl-1976-03-04/0039
Der Abstand von der schweizerischen Mundart zur Schriftsprache ist in den
Lauten, in der Formenbildung, in der Syntax und im Wortschatz weit größer als
zwischen den Dialekten. Die Schüler sind gehalten, wenn sie Lesen und Schreiben
erlernen, mit den Besonderheiten der Schriftsprache vertraut zu werden. Wie früh
und wie konsequent die Lehrer die so anders klingenden Laute des Hochdeutschen
einführen, das ist ein Problem der Methode und der Zielsetzung.
Das weiche ch, das in den wenigsten unserer Mundarten vorkommt, wurde noch
vor 50 Jahren durchaus nicht von allen Lehrern gesprochen; ein in allen Stellungen
hart gesprochenes ch ist darum für Deutsche ein sicherer Hinweis auf die
schweizerische Herkunft des Sprechers, wobei sie meist annehmen, sie bekämen
Schweizerdeutsch zu hören, während es in Wirklichkeit nur um Schriftsprache in
schweizerischer Lautung geht. Andere Schweizer wieder tun des Guten zuviel,
wenn sie auf Grund einer falschen Ausbildung das ch in allen Stellungen weich
aussprechen. Heute hat sich in den Schulen der Städte wohl allgemein die korrekte
Aussprache des für uns schwierigen Lautes durchgesetzt, dagegen ist noch weitgehend
unbekannt, daß Doppelkonsonanten korrekterweise nur einfach zu sprechen
wären (Erna, nicht Em-ma). Ausdrücklich untersagt ist den Radio- und Fernsehsprechern
, -ig wie -ich auszusprechen, weil das als „zu deutsch" empfunden werde;
eine Zeitung, die sich bis vor kurzem nicht genug damit tun konnte, alle „progressiven
" Ideen aus der BRD unter ihre nationalen Fittiche zu nehmen, kämpfte
gleichzeitig mit Vehemenz für das „schweizerische" -ig mit -g. Es läßt sich kaum
besser aufzeigen, welche Emotionen an sich harmlose Laute verursachen können.
Daß sich auch an Elementen der Formenlehre und des Wortschatzes nationale
Gefühle entzünden können, wird deshalb niemanden wundern. Daß das Partizip
der Vergangenheit von speisen nicht gespiesen, sondern gespeist ist, wissen selbst
viele Lehrer und Journalisten nicht. 1963 hat der Zürcher Kantonsrat, bei der
Behandlung eines Gesetzestextes auf diesen Fehler aufmerksam gemacht, mit 62
gegen 24 Stimmen beschlossen, gespiesen im Text zu belassen3). Als ich diese
wahre Geschichte einem ehemaligen Deutschlehrer erzählte, wehrte auch er sich
für das starke Partizip: gespeist sei eine „Schwabenform", die wir in der Schweiz
nicht zu übernehmen brauchten. Ob er auch gewunken schreibt, vergaß ich ihn zu
fragen. — Meine Versuche, die auch stilistisch so blasse Wendung es hat (für
es gibt) aus schriftlichen Äußerungen auszumerzen, haben mir mehrfach das Mißfallen
von Lehrern zugezogen, weil sie auf diese in der Mundart übliche Wortverbindung
nicht verzichten möchten. Dabei besteht gewiß keine Gefahr, daß
deshalb es hat aus unsern Mundarten verschwinden könnte. Für andere Bereiche
des Wortschatzes ist freilich eine solche Gefahr nicht gering zu veranschlagen. Das
glarnerische Wort Büchel ist zugunsten des schriftsprachlichen Hügels über den
Schulunterricht verdrängt worden, und es gibt Schüler, welche unter dem Einfluß
der Schriftsprache in der Mundart nicht mehr das Eck, sondern die Ecke verwenden
, um nur ganz wenige Beispiele zu nennen.
Der Wortschatz ist ohnehin das anfälligste Glied jeder Sprache, während die
Laute das konservativste Element sind. Bezeichnend ist etwa, daß das eingangs
erwähnte Verb ankommen im Sinn von „Erfolg haben" bereits in die Mundart
übernommen worden ist, aber selbstverständlich in der Lautung von ankommen im
alten Sinn (das Ziel erreichen), also aachoo usw. Schon vor Jahrzehnten hat sich
der aus Wien stammende Germanist Samuel Singer darüber gewundert, daß man
in der Schweiz Fachausdrücke mühelos assimiliert, z. B. Luutverschiebig (Lautverschiebung
).4) Ergebnis: Die schweizerischen Mundarten stellen neuen Ideen in der
Gestalt neuer Wörter durchaus keine Hindernisse in den Weg. Esoterischen Ausdrücken
wie Brisanz, Interaktion oder unter privilegiert freilich fällt das „An-
3 Vgl. Stephan Kaiser, Die Besonderheiten der deutschen Schriftsprache in der Schweiz,
Band 2. Mannheim/Wien/Zürich 1970 (Duden-Beiträge, Heft 30 b), S. 141.
4 Samuel Singer, Schweizerdeutsch. Frauenfeld-Leipzig 1928, S. 13.
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