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kommen" schwerer, aber gewiß nicht nur in der Schweiz, sondern ebenso in den
breiten Schichten Deutschlands. Das Unbehagen gegenüber solchen Wörtern geht
nicht auf das Konto des Dialekts.
Damit rühren wir nun an den eigentlichen Sinn, den die „Erfinder" der Sprachbarrieren
in dieses Wort gelegt haben: Sie meinen gar nicht die Schranken, die
zwischen den verschiedenen Sprachen und Dialekten tatsächlich bestehen, sondern
Verständnisschwierigkeiten, denen die sozial Benachteiligten ausgesetzt sind.5) Der
Berner Germanist Roland Ris hat darauf aufmerksam gemacht, daß die angeblich
„demokratischen" schweizerdeutschen Mundarten solche Schwierigkeiten durchaus
nicht ausschließen 6). Mit dem gut schweizerisch tönenden Wort Luutverschiebig
sage ich selbstverständlich einem „Mann aus dem Volke" genau so wenig wie mit
dem Fremdwort Interaktion. Aber das steht hier nicht zur Debatte, sondern einzig
die Frage, ob die schweizerischen Mundarten alle Schweizer oder wenigstens die,
welche nicht zur „Bildungsschicht" gehören, gegenüber gebildeten Deutschen benachteiligen
.
Tatsächlich spricht der „durchschnittliche" Schweizer nur ungern hochdeutsch.
Auch einem „Gebildeten" ist es peinlich, sich mit einem andern Schweizer, sozusagen
„gegen die Natur", in der Schriftsprache unterhalten müssen, weil ein
Deutscher an dem Gespräch teilnimmt. Dazu gesellen sich in den Kreisen, denen
es an Übungsmöglichkeiten fehlt, unüberhörbare „Hemmungen". Von einem
Franzosen erhofft sich, wer in der Schule Französisch gelernt hat, ein freundliches
Überh ören von Fehlern; vor einem Deutschen schämt man sich im voraus für
mögliche Verstöße. Die Schriftsprache ist Schulsprache im vollen Sinn des Wortes,
weil die Schule die ganze Last der Ausbildung tragen muß. Nur die wenigsten
Eltern werden sich bereit finden, mit ihren Kindern zur Unterstützung der Schule
gelegentlich hochdeutsch zu sprechen, während bei gegebenen Voraussetzungen
häusliche Übungsgespräche in Französisch durchaus vorkommen.
Das Französische ist das sprachlich „ganz Andere", und deshalb erwartet man
von den Lehrern, daß sie es den Kindern so korrekt wie möglich beibringen. Das
Hochdeutsche sollte dagegen nicht so tönen, daß man mit einem „Schwaben" verwechselt
werden könnte. Es bleibt abzuwarten, ob die Schweizer, die so eifrig an
deutschen Fernsehsendungen Anteil nehmen, mit der Zeit eine etwas größere
Sicherheit in der mündlichen Verwendung der Schriftsprache erlangen.
Das Unbehagen gegenüber der Schriftsprache geht also primär nicht auf eine soziale
Benachteiligung zurück. Die achtjährige Schulzeit würde durchaus ausreichen,
jedem normal begabten Kind die nötige Beherrschung der „ersten Fremdsprache"
beizubringen. Daß es oft nicht dazu kommt, liegt nur zum Teil an den Lehrern;
viel schwerer wiegen die erwähnten psychischen Faktoren. Man darf diese
Situation aber nicht dramatisieren, denn selbst eine mangelhafte Schulbildung
verunmöglicht es keinem Schweizer, wenigstens notdürftig hochdeutsch zu schreiben
und gedruckte oder gesprochene schriftsprachliche Texte zu verstehen, sofern
sie nicht aus Dummheit oder Anmaßung so formuliert sind, daß sie auch ein
durchschnittlicher Deutscher ohne Kommentar oder Übersetzung in Normaldeutsch
nicht begreifen kann.
Es bedeutet für einen Schweizer Schüler unbestreitbar eine beträchtliche Anstrengung
, sich mit der Schriftsprache vertraut zu machen; diese Aufgabe verlangt
intensives Training, aber gerade darin sehe ich eine bedeutende Chance: Die
erhebliche Distanz zwischen Dialekt und Schriftsprache verschafft Einblick in
neue sprachliche Möglichkeiten, und gerade das kann dem Dialekt zugute kommen
. Wer sich der Unterschiede bewußt geworden ist, kann psychisch von der
5 Vgl. darüber zuletzt: Hermann Bausinger,
der kleinen Leute/ FS K.-S. Kramer, Berlin
6 Roland Ris, Dialekte und Sprachbarrieren
genannten Sammelband, S. 29 ff.
Sprachschranken vor Gericht. In: Das Recht
1976, S. 12 ff.
aus Schweizer Sicht. In dem unter Anm. 1
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