http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/mgl-1976-03-04/0042
Französische Dialektologie
Dies ist eine redaktionelle Bemerkung, die keine direkte Aussage zur französischen
Dialektologie machen, sondern Gesprächserfahrungen wiedergeben soll. Wir
sind der Meinung, daß ein Blick über die Grenzen stets gut tut und Erkenntnissse
darüber vermitteln kann, warum ein Problem im Ausland nicht besteht, oder
warum und wie man ihm anders begegnet als bei uns. Deshalb wollten wir aus
berufener Feder etwas über die Lage der französischen Dialekte wissen und
Meinungen darüber hören, welche Folgen, sprachwissenschaftliche und kulturelle,
sich aus der Lage der „patois" ergeben haben oder ergeben könnten.
Unsere erste Anfrage bei einer namhaften Persönlichkeit der Romanistik war
ergebnislos, weil die Dialektologie nicht zu deren Arbeitsgebieten gehört. Es wäre
unmöglich, das nicht zu respektieren. Wir fragten dann fünf Dialektologen des
französischen Zweigs der Romanistik im gleichen Sinn an. Eine schriftliche Äußerung
dazu erhielten wir keine, die Mehrzahl antwortete überhaupt nicht. Zwei
interessante Gespräche brachten jedoch Einblicke in ungeahnte Schwierigkeiten, die
kurz darzulegen nicht minder lehrreich sein kann, auch für unsere Verhältnisse.
Es sei vorausgeschickt, daß in Frankreich die Doktrin der „Patrie une et
indivisible" von 1789 fortbesteht. Ein Versuch, zu einer gewissen Regionalisierung
überzugehen, wurde zum politischen Waterloo De Gaulles. Zur Doktrin von
1789 gehört auch die Forderung nach der französischen Einheitssprache („ein
Volk, ein Reich, eine Sprache"). Die Einheitssprache ist heute noch zentraler,
ideologischer Gesichtspunkt der französischen Kultusverwaltung. Nach den
Vorstellungen von 1789 sollte sie Chancengleichheit für alle bringen.
Die französische Dialektologie ist offenbar mit der fast archäologischen Aufnahme
der Reste der Dialekte und ihrer musealen Archivierung beschäftigt. Für
die Dialekte selbst sei es nicht 5 Minuten vor, sondern 5 Minuten nach 12 Uhr,
heißt es. Wer Dialekt spreche, werde bei der ländlichen Unterschicht eingeordnet.
Wer zur Oberschicht gehöre und dennoch Dialekt spreche, gelte als Sonderling
oder Spinner. Wer als Romanist sich kritisch zur offiziellen einheitssprachlichen
Linie oder kritisch zu den Folgen dieser Politik äußere oder nur diese Folgen zu
beschreiben wage, müsse, so meint man, mit Konsequenzen für seine fachliche
Laufbahn rechnen. Unter dieser Voraussetzung würden selbst nichtfranzösische
Wissenschaftler gefragt, ob sie denn kritische Ausführungen vor einem offiziellen
Publikum machen könnten. Man könne daher auch von Nichtfranzosen nicht
erwarten, sich zu den von uns gestellten Fragen schriftlich zu äußern, da sie sonst
nicht nur evtl. bestehende gute Beziehungen zur Pariser Kulturverwaltung,
sondern auch zum Kreis angesehener französischer Romanisten, die eben in der
Regel systemkonform seien, aufs Spiel setzen würden.
Gewisse Bestrebungen, etwa die Sprache des Languedoc wieder zu beleben,
werden skeptisch beurteilt. Dem, der den französischen Midi kennt, leuchtet das
ein. Einerseits hat dort die politische Linke eine lange Tradition. Andererseits ist
das Interesse an der alten occitanischen*) Sprache und Kultur erst seit kurzem
von der Linken für ihre politischen Zwecke entdeckt worden. Sie dürfte dort die
Sprachrenaissance nur solange betreiben, als dies politisch von Interesse ist. Demgegenüber
wird das echte kulturelle Interesse an der alten occitanischen Sprache
als zu gering angesehen, um tragfähig zu sein. Anders werden die Aussichten der
vorfranzösischen Sprachen nichtlateinischen Ursprungs, des Bretonischen und Baskischen
, beurteilt. Hier waren kulturelle und sprachliche Traditionen stets eine
* occitanisch: Adjektiv von Occitanie = Aquitanien (Landschaft in Südfrankreich etwa
zwischen Montpellier und Toulouse)
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