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Land verbindende soziale Funktion hat er dann verloren, die Desintegration hat
aber die „Hochsprache" bewirkt, die diese Funktion in ihrem eigenen Bereich nicht
zu übernehmen vermag, wie das Beispiel Niedersachsen (oder Frankreich) lehrt.
4.12 Die horizontale Mobilität, die wir als weiteren äußeren Einfluß nannten,
ist im Gegensatz zum vorigen eine objektive Gegebenheit, die nicht veränderbar
ist. Sie drückt sich auch seit langem im Heiratsverhalten aus. War bis um die
Jahrhundertwende das Connubium, der Umkreis, in dem geheiratet wurde, räumlich
eng begrenzt, so kennt man heute auch in dieser Beziehung kaum mehr eine
Grenze. Daß dies natürlich Veränderungen im Sprachverhalten mit sich bringt,
ist klar.
4.13 Die Aufsplitterung des Hochdeutschen, insbesondere als gesprochener
Sprache, in Fachsprachen und die Internationalisierung der gesprochenen und
geschriebenen Hochsprache (ist sie das noch?) — wirken sich auf das ganze
sprachliche System, nicht nur auf das dialektsprachliche aus. Diese Entwicklung
und die durch die Massenmedien bewirkte und geförderte Verwendung unverständlicher
Sprachhülsen im Unterhaltungssektor, in Werbung, im Politjargon
und vielen Beiträgen mit technischem, wissenschaftlichem oder ähnlichem Inhalt
beeinflussen das ganze deutsche Sprachsystem, die Hochsprache, die Umgangssprachen
, die Dialekte. Sie treffen alle deutsch Sprechenden in gleicher Weise,
wenn auch in unterschiedlicher Qualität, je nachdem ob im Westen oder Osten oder
welcher Schicht sie angehören.
Dazu kommen Erscheinungen wie neue Primitivformen oder Falschbildungen.
Genannt seien Superformen wie schnellstmöglichst oder Steigerungsformen wie
„optimaler, optimalst", die anzeigen, daß die Kenntnis der Wortinhalte schwindet.
Man versucht nicht mehr Wörter zu definieren, sich ihren Inhalt klarzumachen.
Das wäre viel zu umständlich, man kann ja damit rechnen, daß Andere die
Bedeutung 50 genau ja auch nicht kennen. Hier stehen wir vor sprachlichen Zerfallserscheinungen
.
4.14 Die Entwicklung scheint jedoch nicht auf den deutschen Sprachraum
beschränkt zu sein. In Frankreich verursacht das „franglais", die Durchsetzung
des Französischen mit angelsächsischen Modewörtern seit vielen Jahren Ärger.
Erst kürzlich sind in Frankreich solche Fremdformen, soweit sie französisch ersetzt
werden können, verboten worden. Neuerdings beschäftigen sich aufmerksame
Journalisten mit sprachlichen Primitivformen der amerikanischen Umgangssprache.
Der Schluß eines solchen Berichts 3l>) lautet: „Wird Amerika die englische Sprache
töten?" fragt in seinem Bestseller „Strictly Speaking" der Journalist Edwin New-
man. Und er antwortet selbst: „mein wohlüberlegtes, abgewogenes Urteil lautet:
ia-" ...
Hier zeigen sich Zerfallserscheinungen, die nicht geleugnet werden können,
und die zu denken geben.
Weniger die Internationalisierung der Sprache mit Fremdwörtern als die Amerikanisierung
des Deutschen im „show-business", im kommerziellen „Kultur-"
Betrieb, im Werbefach usf. — denn dabei bleibt es ja nicht — kann für die
deutsche Sprache eine ähnliche Bedeutung bekommen.
4.2 Bei der Erörterung der Bevölkerungsumschichtung als Kriegsfolge wurde
ein Umstand noch nicht erwähnt, obwohl er die Lage der Dialektsprecher bei uns
wesentlich beeinflußt hat. Das neue „hochdeutsche", durch Flucht und Vertreibung,
wirtschaftlich entwurzelte Element hat sich in der Folge in starkem Maß den
beamteten Laufbahnen zugewandt, auch den Lehrberufen. Nach Lage der Dinge
war das eine zwangsläufige Folge. Das hat dazu geführt, daß der Anteil der
Lehrer, die aktiv oder passiv am Dialektsystem teilhaben, in den Lehrkörpern so
sehr geschrumpft ist, daß nun die dialektsprechenden Schüler deshalb benachteiligt
sind. Die Lehrer stehen ihrem Sprachsystem großenteils fremd oder gar ablehnend
gegenüber. Viele bemühen sich nicht, den Zugang zum Dialekt zu suchen
oder die eigene Kenntnis zu aktivieren. Daß auch der um diese Fragen bemühte
Lehrer die gesicherten Unterlagen und didaktischen Lehrmittel dafür gar nicht
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