http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/mgl-1976-03-04/0065
Eine vom Sprachsystem getroffene Auswahl hat sprachhistorische Gründe und
gilt grosso modo für größere Landschaften. Es geht hier darum, eine Schrift zu
wählen, die eine größtmögliche Annäherung mit konventionellen Schriftzeichen
erlaubt, wobei lautliche Feinheiten nicht erfaßt werden. Vom Schriftbild des
Schriftdeutschen muß man sich allerdings in stärkerem Maße lösen, so wie man
sich eben auch beim Sprechen der Mundart von der Hochsprache entfernt. Da
kann in Gottes Namen nicht ein Kleid für beide passen, umsomehr als die schriftdeutsche
Orthographie selbst voller historisch erstarrter Widersprüche ist. Gewisse
Annäherungen an die Schriftsprache sind aber durchaus möglich: den Herrn Leerer
muß man nicht unbedingt mit zwei ee schreiben, wenn gleichzeitig die Schriftsprache
mit -eh- die Länge auch festhält. Aber Sohle (Schuhsohle) lautet vielfach
mundartlich sole mit kurzem o. Hier muß gegen die Schriftsprache auf ein h
verzichtet werden.
Ich will Sie damit nicht länger behelligen. Die Frage der Schreibweise ist
schwierig, aber lösbar. Ein Umschreiben eines Lesebuches bei so vielen Texten hätte
aber zur Voraussetzung, daß der Herausgeber sich alle Texte entweder durch den
Autor oder einen Kenner der Mundart vorsprechen läßt, um sie richtig zu übertragen
oder daß er diese Arbeit dem Autor selber oder einem Helfer überläßt. Der
Aufwand wäre kaum größer als der hier geleistete.
Man rede aber nicht so sehr von der Angst, den Leser und Schüler mit ungewohnten
Schriftbildern abzustoßen. Mundartlesen ist so oder so nicht populär und
setzt Bereitschaft voraus. Wo diese vorhanden ist, wird man dankbar sein, dem
Text in möglichster Treue zu begegnen. Wir sind ja auch nicht erbaut vom Aller-
weltsheimatstil, der Echtheit mit Anbringen überzähliger Wagenräder vortäuschen
will, wir nehmen uns auch lieber die Mühe, in Schilli's Vogtsbauernhof zu pilgern.
Und so muß man sich den Weg zur Mundart ebenfalls etwas kosten lassen, und
dazu muß auch der Schüler angehalten werden. Und wäre das schon eine Katastrophe
, wenn wir ihn zu ein paar Fehlern in der schriftdeutschen Orthographie
verführen sollten mit unserer Mundartschrift? Wir sind doch wohl darüber hinaus,
in der Orthographie das sichere Anzeichen von Bildung zu testen. Mich stören
Orthographiefehler selbst in Seminararbeiten von Studenten nicht, wenn sonst was
Gutes drin steht. Aber meistens steht dann auch sonst nicht viel drin. Orthographie
ist keine Hexerei, sondern eine reine Gewöhnungssache; wir müssen zusammen
mit der französischen und englischen deren mehrere beherrschen.
Zum Schluß habe ich noch ein Anliegen. Ich benutze dazu wieder das Vorwort
unseres Lesebuchs, und zwar den Schlußsatz: „Der Muetersprochverein glaubt, daß
Mundart ein wertvolles Kulturgut ist. Wir müssen sie erhalten. Sie hat Persönlichkeitswerte
, und das Persönliche, Charakterbestimmende wollen wir pflegen. Nur
der charaktervolle Mensch kann Europa, kann die Welt voranbringen und vereinen
." Sie werden vielleicht sagen: da ist doch gar nichts einzuwenden. Sicher
nicht gegen die zwei ersten Sätze. Die Mundart ist ein wertvolles Kulturerbe. Wir
müssen sie erhalten. „Sie hat Persönlichkeitswerte". Nur sie? Oder etwa jede
Sprache? Wer will hier im Ernste die Hochsprache ausschließen, und mit welchen
Argumenten? Also, wenn diese auch, warum dann hier die Mundart herausstreichen
? Und hat man schon nachgedacht über die Zusammenhänge zwischen
Sprache und Charakter, einmal abgesehen vom etwas schwammigen Wort „Persönlichkeitswert
"? Der Satz umschließt letztlich die schwierigsten sprachpsychologischen
und philosophischen Fragen, die wir beileibe jetzt nicht lösen wollen
noch können. Aber was solls? Das ist doch einfach ein schöner Schlußsatz, mit
Europa und dem Voranbringen der Welt. Darüber denkt man doch nicht nach,
darin liegt ja das Schöne der erhebenden Sätze.
So erhebend sie sein mögen, die schönen Reden zum Preise der Mundart, sie sind
auch eine Gefahr. Eine Gefahr fürs Ernstnehmen. Viele Zeitgenossen sehen in den
Mundartfreunden ein bißchen ältliche vergangene Zeiten hätschelnde Sonderlinge,
denen man nichts Böses tun soll, weil sie nichts Böses im Sinne haben. Aber ernst
nimmt man sie nicht, aus Mitleid, Gleichgültigkeit oder intellektuellem Hochmut.
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