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Schritt zum hochdeutschen Sprechen und noch mehr zur hochdeutschen Rechtschreibung
größer als für das Stadtkind. Für die lernbehinderten Sonderschüler
bestand das Problem insofern nicht separat, als es in den Städten vor dem Kriege
nur wenige, auf dem Lande überhaupt keine Sonderschulen gab.
In der Nachkriegszeit wurde die Problematik zwischen Dialekt und Schule zuerst
ungemein schwerer und komplizierter. Lehrer aus allen Gauen unseres ehemaligen
Vaterlandes kamen aus den verschiedensten Gründen in andere Sprachräume
und waren oft viele Hundert Kilometer vom Ort ihrer Heimatsprache entfernt
. Dasselbe traf auch für viele Kinder zu. Schüler aus allen Gegenden des
deutschen Sprachgebietes waren in einer Klasse und mußten ja miteinander sprechen
und gemeinsam das oft fremde Wort des Lehrers hören. Man kann ruhig
behaupten, daß durch diese gewaltige Volksverschiebung fast überall die Dialekte
abgeschliffen wurden. Natürlich trifft das nicht so sehr für die Sprache der
Erwachsenen zu, die schon Jahrzehnte ihren festen Dialekt sprechen, sondern mehr
für die Nachkommenden. Viele Kinder hatten gleich drei Sprachen zu verstehen.
Daheim hörten sie womöglich ostpreußisch, die „eingeborenen" Kinder sprachen
alemannisch, und der Lehrer sprach ein Hochdeutsch, d. h. wenn an einer Schule
viele Lehrer waren, sprach womöglich jeder Lehrer „seine" Schriftsprache. Ich sah
als Lehrer diese Mannigfaltigkeit oft: Eine Mutter kam in die Schule. Ihr Kind
wurde vom Lehrer aus der Klasse geholt. Die Mutter sprach mit ihrem Kind in
ihrer Mundart. Drinnen in der Klasse erzählte es der Schüler seinen Mitschülern
in seinem Alemannisch, und der Lehrer sprach mit ihm in seinem Hochdeutsch.
Interessanterweise konnte man bei Schulkindern auch die verschiedensten Grade
der Angleichung hören. Ich kannte viele, die das Alemannisch kaum annahmen,
viele aber sprachen es originell wie die kleinen Alemannen. Ich habe aber auch
durch jahrelange Beobachtungen feststellen können, daß diese Verschiedenartigkeit
in der Angleichung mit Intelligenz nichts zu tun hat. Da spielen viele andere
Faktoren eine Rolle, sie zu ergründen und zu erklären, würde in diesem Rahmen
zu weit führen.
Ich habe oben gesagt, daß die Nachkriegszeit auch entscheidend zum Abbau
der Sprachbarriere beigetragen hat. Die Gründe sind augenscheinlich. Zunächst
besuchen besonders in den Städten, aber immer mehr auf dem Lande, die Vorschulkinder
einen Kindergarten. Dort hören sie von den Tanten, die auch oft
nicht demselben Sprachraum wie die Kinder entstammen, eine andere Sprache, ein
landschaftlich gefärbtes Hochdeutsch. Dann ist in allen Familien zumindest ein
Radiogerät, Plattenspieler und Tonbandgeräte sind vorhanden, und selbst ganz
kleine Kinder können mit diesen Geräten schon umgehen. Und der Hauptfaktor:
Der Fernsehapparat. In fast allen Familien hat das Vorschulkind Gelegenheit,
Kindersendungen zu sehen und zu hören. Ich kenne sogar Fälle von intelligenten"
Kindern, die durch das Fernsehen, ohne daß sie jemand dazu angehalten hätte,
oder sie es gar lehren wollte, die Druckschrift beim Schuleintritt komplett lesen
konnten. So sind diese Kinder beim Schuleintritt auch nicht mehr überrascht, wenn
der Lehrer sie in seinem Hochdeutsch anspricht. Eher fällt es den Kindern auf,
wenn der Lehrr noch zu sehr in seinem Dialekt verhaftet ist, den er natürlich auch
fast gar nie ganz ablegen kann. Einen Sachsen oder Schlesier erkennt man am
zweiten Satz, auch wenn er meint, hochdeutsch zu sprechen. Ich selbst habe es
erlebt, daß man mich in Norddeutschland für einen Schweizer hielt, obwohl ich
versuchte, einigermaßen Schriftdeutsch zu sprechen.
Was aber nicht unberührt bleiben darf, ist das Problem der Gastarbeiterkinder.
Hier ist natürlich die Sprachbarriere z. T. eine absolute. Sie hat selbstverständlich
die verschiedensten Grade der Höhe, es kommt darauf an, wie lange die Eltern
schon in Deutschland sind, wie alt die Kinder beim Herzug waren, wie stark bei
den Kindern daheim die Möglichkeit besteht, deutsch zu hören und zu sprechen.
Erschwerend ist, daß diese Kinder dann doppelt lernen müssen: auf der Straße
hören sie den alemannischen Dialekt, in der Schule die Hochsprache.
Wo sind nun diese Hürden am offenkundigsten?
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