http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/mgl-1976-03-04/0102
pflichten des Lehrers. Der verbindliche Kanon der Lernstoffe läßt es auch heute
kaum zu, daß Extratouren im Sinne einer bewußt gepflegten Zweisprachigkeit
gedeihen.
Die Regionalsprache muß jedoch als vorgesehener Werkstoff zur Geltung
kommen und zwar nicht im Sinne einer auszumerzenden Kuriosität, sondern als
willkommener Motor der Spracherziehung nicht nur in der Grundschule, sondern
in allen Schularten und auf allen Schulstufen.
Der Zielkonflikt ergibt sich für die meisten Lehrer aus zwei sich widerstreitenden
Aufgaben des Schulpraktikers. Er soll auf der einen Seite die Kinder
des alemannischen Sprachraums mit dem Hochdeutschen in Wort und Schrift
vertraut machen, soll und will aber andererseits Spontanität und natürliche Entfaltung
der Kinder fördern, und dazu muß er ihnen Spielraum in der Muttersprache
lassen. Der tiefere Konflikt aber bahnt sich erst an. Er wird sich um die
Durchsetzung des hier formulierten Grundsatzes ereignen, die Regionalsprache zum
grundlegenden Werkstoff des muttersprachlichen Unterrichts zu machen.
Nur etwa die Hälfte der an den Grund-, Haupt-, Real- und Sonderschulen des
alemannischen Sprachbereichs im Lande Baden-Württemberg tätigen Lehrer
entstammt diesem Sprachraum, wie das Beispiel des Schulkreises Lörrach zeigt.
Unter diesen sind auch die zahlreichen Lehrerinnen und Lehrer aus nicht alemannisch
sprechenden Elternhäusern und aus den größeren Städten des Sprachraums
mitgezählt, die nur in seltenen Fällen als „Dialektsprecher" anzusehen sein
dürften, so daß die Zahl der voll mit dem Alemannischen vertrauten Lehrer wohl
eine verschwindende Minderheit darstellt.
Die Mehrzahl der Lehrer sieht sich daher vor einer schwierigen Aufgabe. Die
Sprachstruktur des Alemannischen ist ihnen kaum geläufig, geschweige denn der
spezifische Wortschatz. Die Kinder jedoch, die sie zu betreuen haben, sind überwiegend
mit einem mehr oder weniger reinen Alemannisch aufgewachsen. Die
Hochsprache ist ihnen bisher fast nur in Rundfunk und Fernsehen und in der Gestalt
einiger „Fremder" begegnet. Sie sind darin nicht geübt, vielmehr ist die
Hochsprache etwas, dem sie bisher nur zugehört haben. Den Fremden gegenüber,
denen sie bis dahin begegnet sind, der Tante im Kindergarten, dem Pfarrer vielleicht
und Feriengästen, haben sie in ihrer Sprache geantwortet, sind vielleicht
nicht verstanden worden und haben fortan geschwiegen, wenn sie von „Fremden"
angesprochen wurden. Ein junger Kollege hat dem Verfasser einmal von seinen
diesbezüglichen Schwierigkeiten an einer kleinen Schwarzwaldgrundschule berichtet
. Es sei ihm, so versicherte er, mehr als ein Jahr lang nicht gelungen, aus
einem der Kinder, die er unterrichten müsse, etwas herauszulocken. Sie säßen
stumm da, nähmen zwar auf, was er ihnen erkläre, seien jedoch nur zu schriftlichen
Tätigkeiten zu bewegen. Dieser Kollege konnte kein Alemannisch sprechen
und wohl auch nur wenig davon verstehen.
Die Not der jungen Lehrer in unserem Sprachgebiet verdeutlicht auch ein
anderer „Fall". Eine junge Berlinerin, die an einer Schule im Markgräflerland
Zweitkläßler zu unterrichten hatte, schickte einen Jungen zum Sprachtherapeuten,
weil sie nicht verstehen konnte, daß dieser sein alemannisches CH nicht loswerden
konnte. Er war das einzige Kind der Klasse, das in reinem Hochalemannisch aufgewachsen
war.
Diesen Lehrern ist kein Vorwurf zu machen. Das Alemannische als vorgegebene
Realität überfordert sie. Für sie war bisher Deutsch gleich Deutsch. Sie sind allenfalls
in ihrer Ausbildung mit der Sprachschichtentheorie vertraut geworden,
diese ist wiederum direkt nur innerhalb einer Sprache, also auch der Regionalsprache
, anzuwenden, nicht aber — wie dies schon oft und gerne gemacht wurde —
in der Unterscheidung zwischen Hoch- und Regionalsprache; denn die Regionalsprache
ist eben keine Schicht der Hochsprache. Sie ist auch kein Dialekt, also
eine Abweichung von der Norm. So wie aber keine wertenden Kriterien von
der sprachlichen Norm her anzusetzen sind, sind es auch nicht die soziologischen
Kriterien der Sprachschichtenlehre.
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