http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/mgl-1976-03-04/0174
des Alten, die erschrocken fragende des Jungen, beide fast nur als Silhouetten vor
dem Nachthimmel erkennbar. Die Dunkelheit läßt die von Richter sonst liebevoll
gepflegten Einzelheiten verschwinden und gibt so den Blick frei auf das Wesentliche.
Der Künstler führt den Blick des Betrachters auf sehr überlegte Weise. Wir
sehen von einem tieferen Standpunkt zu den beiden Figuren hinauf. Diese wenden
uns aber den Rücken zu, so daß wir über sie hinaus blicken in die durch die
Hände angedeutete Richtung. Dort ragt die Ruine des Schlosses Rötteln auf, „so
schudrig wie der Tod im Basler Totetanz", obwohl oder gerade weil wir sie mehr
ahnen als genau erkennen. Sie leitet den Blick mehr als daß sie ihn hindert auf
dem Weg in die vom tiefliegenden Horizont freigegebene Weite des Himmels, in
die Unendlichkeit: vom Unheimlichen der nahe vorbeistreifenden Fledermäuse zum
fernen, heimlichen Gefunkel der Sterne. Hier ist noch ein Anflug spürbar von
jener frühen, noch nicht popularisierten und trivialisierten Romantik, wie sie uns
etwa in der Malerei Caspar David Friedrichs begegnet. Man könnte an dessen
Bild in der Berliner Nationalgalerie denken, auf dem Mann und Frau — wie so
oft bei Friedrich mit dem Rücken zum Betrachter — in den Anblick des Mondes
versunken sind, während sich zwischen sie und das Licht aus der Ewigkeit eine
halb entwurzelte und verdorrte Eiche, eine gespenstische Baumruine, schiebt. Was
hier in statischer Versunkenheit, in mystischer Kontemplation dem Menschen an
Erkenntnis zuteil wird, das ist bei Richter, dem Späteren, nur noch momentan
„erfahrbar", auf dem fahrenden Ochsenkarren, der gleich aus dem Bildausschnitt
verschwinden wird, im erläuternden Gespräch. Aber hier wie dort finden wir
dieses Ausblicken vom Irdischen weg, diese „Nachtgedanken über Leben, Tod und
Unsterblichkeit", wie der Titel des unerhört folgenreichen Buches von Edward
Young lautet. Auch Hebel hat das Gedicht des Engländers gekannt und ihm auf
seine Art mit dem nächtlichen Gespräch von Ätti und Bueb geantwortet.
Hier also fügen sich Illustration und Text zu einer überzeugenden Einheit
zusammen. Wo Hebels Gedicht sich dann zu der mächtigen Vision des Weltbrandes
steigert, da hält Richter sich zurück: er hat der Phantasie die einstimmenden
Hinweise gegeben und überläßt das Feld nun dem Wort, wie es in der Offenheit
sinnfällig wird, mit der die über dem Gedichttitel stehende, rahmenlose Illustration
in dem reizvoll skizzenhaft belassenen Vordergrund zum Text überleitet
.
Wenn Richter sich in einzelnen Motiven zu den Alemannischen Gedichten von
früheren Hebel-Illustratoren anregen ließ — in der „Wiese" etwa von Hans
Bendel, im „Statthalter von Schopfheim" und im „Geisterbesuch auf dem Feldberg
" wohl von Julius Nisle —, so hat er seinerseits mit der Zeichnung zur
„Vergänglichkeit" mit solcher Sicherheit den fruchtbaren Moment getroffen, daß
seine Nachfolger offensichtlich nicht anders konnten, als sich mit ihm auseinanderzusetzen
. Auch Hebel hätte ja, wie wir gesehen haben, dieses Motiv gewählt.
Kaspar Kögler, dessen Illustrationen 1900 in Karlsruhe erschienen sind, hat
Richters Zeichnungen als „für alle Zeiten mustergültig" bezeichnet, und als er
„— man will ja auch leben — die Arbeit dennoch übernahm, geschah das und
die ganze Ausführung unter dem deprimierenden Gefühl einer Uberhebung meiner
künstlerischen Kraft" **). Tatsächlich hat Kögler sich kaum von Richter lösen
können. Für uns sind dennoch die stilistischen Unterschiede, die der Abstand von
einem halben Jahrhundert notwendig mit sich brachte, von Interesse. Dabei fallen
weniger die „seitenverkehrte" Wiedergabe oder der Umstand ins Gewicht, daß
Kögler offenbar Pferde als Zugtiere annimmt. Wichtiger ist die völlig veränderte
„Stimmung" des Bildchens. Das Geschehen ist in unsere Nähe gebracht, wir unterscheiden
die Gesichtszüge des Vaters. Der hohe Horizont und der rahmende Baum
lassen an einen Geborgenheit vermittelnden Innenraum denken. Der Bub hört
gelassen zu, keine Spur mehr von der Gespanntheit, die er bei Richter äußert.
Eine verharmlosende Interpretation Hebels, will uns scheinen. Geheimnislosigkeit
und vordergründiger Realismus gehen durch Köglers Illustrationen durch; und
unter solchem Aspekt wird man Hebel in jener Zeit auch gelesen haben. Wo
356
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/mgl-1976-03-04/0174