http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/mgl-1979-01-02/0128
ziehen lassen, sollen sie deutlicher genannt und im Bedarfsfalle weiter ausgeführt
werden:
1. Hebel war sich selbst klar darüber, daß die Vorgeschichte der „Alemannischen
Gedichte" in keiner Weise den Normalvorstellungen ahnungsloser
Literaturkonsumenten von der Entstehung eines Kunstwerks entspricht.
2. Daß er schon als Knabe dichtete, will nicht viel heißen; fast jeder sensible
und sprachbegabte Adoleszent schreibt Verse. Wichtiger sind die Namen
der Vorbilder dieser poetischen Übungen: es sind Kirchenlieder, dann vermutlich
die Sammlung im „Taschenbuch" des Vaters ,7, die Etablierten des
damaligen Literaturbetriebs und ein Avantgardist: Klopstock.
3. Das Aufhören ohne Vorsatz und die fast unwillkürliche Wiederaufnahme
des Versemachens sind der Ausdruck einer aprinzipiellen Lebenshaltung
, die für den Charaktertypus des „ruhigen Humoristen", zu welchem
nach Ernst Kretschmer,8) auch Hebel zählt, bezeichnend ist. Die
gleiche Nichtbereitschaft zu grundsätzlichen Entschlüssen zeigt sich auch
im Verhältnis zu seiner fernen Geliebten Gustave Fecht 19) oder im Verhalten
bei der Berufung an die lutherische Stadtpfarrei in Freiburg so).
4. Die mittelhochdeutsche Lektüre und die damit verbundene Entdeckung der
edlen Herkunft einer verachteten Mundart muß ungefähr ins Jahr 1788
fallen, also in die Zeit der Tischgenossenschaft bei der Familie Günttert
in Weil und des vermutlichen Beginns der Freundschaft mit Friedrich
Wilhelm Hitzig. In die gleiche Zeit lassen sich auch die Keime des Pro-
teuserkults datieren, jenes soziologisch und psychologisch ebenso aufschlußreichen
Phänomens — lähmende Situation begabter und gebildeter Männer
im dritten oder vierten Lebensjahrzehnt ohne Möglichkeit politischer Betätigung
und mit geringen Aussichten auf berufliches Avancement —,
dessen vor allem sprachschöpferische Impulse 1790/91 im „Almanach
des Proteus" und im „Wörterbuch des Belchismus" 21) ihre Kanonisierun?
fanden. Dieser Umstand deutet auf zwei Fakten hin:
a) Hebels Mundartdichtung wächst aus gelehrten Wurzeln. Die „Alemannischen
Gedichte" sind nicht einfach, wie Susi Löffler meint, — „Die Liebe
zur Heimat, die Sehnsucht nach der Kindheit, ließ sie die Sprache der
Kindheit, ihn immer wieder im stillen mit sich sprechen, bis einmal bei
einer solchen freiwilligen Übung' die ersten Verse entstanden ~). — aus der
Tiefe eines kindlichen Gemüts emporgestiegene Gebilde, sondern das Produkt
eines durch intensive grammatische, etymologische und metrische
Arbeit vorbereiteten Geistes.
b) Im Lörracher Freundeskreis sind unter dem Deckmantel des Unsinns
eigentliche Übungen im mundartlichen Ausdruck angestellt worden. Günttert
muß zeitlebens einen Hang zu Sprachspielereien behalten haben, und
Hebel kam ihm hierin in mehreren Briefen entgegen 23). An ihn richtet sich
auch das einzige erhaltene Beispiel alemannischer Vorübungen: die berühmte
Hexameterepistel vom Mai 1792 24). Dieses Gedicht zeigt schon
zehn Jahre vor dem Einsetzen der kurzen produktiven Phase eine derartige
formale und inhaltliche Vollkommenheit, daß es selber wiederum
kein Erstling sein kann. Andere verlorene Versuche müssen davor liegen.
Man wird also nicht fehlgehen, wenn man die Anfänge der alemannischen
Dichtung im Lörracher Proteuserbund der späten Achtzigerjahre
ansetzt.
5. Die Bemerkung nicht ohne Veranlassung, die hier dunkel bleibt, wird
durch andere Briefstellen geklärt (s. u.).
6. Der letzte Satz zeigt einen untrüglichen Blick des Dichters für die eigenen
Grenzen.
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