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Am 14. Januar 1807 betraute ihn das Konsistorium mit der Aufgabe, weil er
„nicht allein alle hierzu erforderlichen Kenntnisse, sondern auch und insbesondere
die seltenere Gabe, das Volk auf eine angenehme und faßliche
Art zu belehren, in einem vorzüglichen Grade besitzt" 45),
and bereits am 8. März legte er seine Ideen für einen neuen Kalendertitel vor
und unterwarf in zwei anliegenden Blättern [. . .] die Manier der Erzählungen
höherer Prüfung46). Das Konsistorium wählte den Titel „Rheinischer Hausfreund
" als den schicklichsten, dagegen erhob es Einspruch, gegen zwei Erzählungen
„Die Ermordung des schwarzen Kaisers" und „Die Geschichte des Betrunkenen
", weil die Gegenstände dem Interesse der Leser zu fern lägen. Die
zweite der beiden Geschichten versuchte Hebel zu rechtfertigen, ohne jedoch
durchzudringen.
„In der Anlage übergebe ich noch zwei von dem Zeichner zurückerhaltene
Aufsätze für den Calender zur Genehmigung und bitte um eine gleiche
für die nochmals anliegende Wirthszeche, an deren Statt eine lehrreiche
Erzählung lieber wollte gesehen werden. Theils habe ich gerade in ihr die
Auflösung mehrerer Räthsel versteckt, die der Calender enthalten wird,
theils rechtfertigt sie vielleicht noch ein anderer Grund.
Ein Calender, der viele Freunde unter seinen vielerley Lesern gewinnen
soll, muß ohne Zweifel, wie eine dergleichen Wochen-und-Monatsschrift,
die in das größere Publikum ausgehen soll, neben seinem Haupt-Eintrag,
der für alle berechnet ist, noch eine Zuthat von Mancherley zur Einladung
und Befriedigung verschiedenen Humors als, ie einen lustigen Schwank,
wieder eine grausame Hinrichtung oder Mordthat zu Ergreifung gröberer
Nerven, wiederum an seinem Ort etwas Sinniges für nachdenkende Gemüther
, etwas Abentheuerliches, etwas Seltsames oder Räthselhaftes plan-
mäsig enthalten. Vorzüglich aus diesem Grunde konnte auch der Calender
bisher nie Glück machen, da auf Einem Bogen an so etwas nicht zu denken
war. Eine allzu besonnene und eben daher leicht merkbar werdende Berechnung
aller Artikel auf Belehrung und Moralität greift nicht durch, da
kein Mensch, um belehrt und gebessert zu werden, sondern um Unterhaltung
zu finden, den Calender list. Doch selbst die Wirthszeche enthält
schon im ersten Perioden einen Wink auf praktische Benutzung ").
Dieser Passus zeigt, welch überragende und gleichzeitig welch nichtige Bedeutung
dem „Stoff" zukommt. Ist er für die meisten nicht berufsmäßigen Leser die
stärkste oder sogar die einzige Attraktion, also Anlaß und Ziel der Lektüre, so ist
er für den Künstler nicht mehr als rohe Materie, die erst unter seiner Berührung
Form und Gestalt gewinnt. Nichts ist dem schöpferischen Geist gleichgültiger als
das Vehikel, das er auf dem Weg zum vollendeten Werk benützt: sei's der
Lebenslauf des armen Jakob Hummel oder der Gang der Gestirne.
Der letzte Abschnitt ist jedoch auch geeignet, den oft gegen Hebel erhobenen
Vorwurf der zu starken Moralisierung aus einem andern Blickwinkel zu sehen.
Der Schlußsatz zahlreicher Geschichten ist ein Fabula docet und nicht der Anlaß
der Erzählung. Außerdem hat man mindestens seit der ausgedehnten Bekanntschaft
mit Brecht einsehen gelernt, daß es neben der sog. reinen Poesie eine andere
nicht weniger dichterische gibt.
Die Auflageziffer des Kalender stieg unerwartet rasch. Bereits vom Jahrgang
1808, dem ersten von Hebel allein bearbeiteten, druckte man 24 000 statt der
vorher üblichen 20 000 Exemplare. Im folgenden Jahr wagte man eine Auflage
von 30 000 und 1810 sogar von 50 000, wobei man aber durch äußere Gründe —
falsche Gerüchte der Konkurrenz — auf rund 10 000 Stück sitzen blieb. Durch
einen Wechsel der Druckerei hatte auch die Ausstattung wieder stark abgegeben:
Hebel sah sich zu einer neuen Stellungnahme veranlaßt. Am 8. Dezember 1809
richtete er an Kirchenrat Volz ein Memorandum 48), in dem er wünschte, daß der
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