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Brücke zu einer — wenn auch nur kurzen — Wiedervereinigung mit allem
Sein 58). Jean Paul konnte hier bahnbrechend wirken, weil er seine theoretischen
Bemerkungen durch Dichtungen belegte. Zwar geht auch er von der Aufklärung
aus59), aber schon um 1785 schreibt er: „Der Traum ist unwillkürliche Dichtkunst
" 60).
6. Hebels Traumtheorie
Rein chronologisch steht Hebel zwischen aufklärerischer und romantischer
Traumauffassung. Für eine Beurteilung seiner Traumaufzeichnungen und deren
Beweggründe ist es wichtig zu wissen, welcher er zuneigte. Wieder müssen wir
eine Antwort auf Grund von Indizien suchen. Jean Pauls Schriften hat Hebel
sicher gut gekannt, dafür zeugen seine Briefe, psychologische Zeitschriften oder
Abhandlungen haben ihn dagegen kaum interessiert, jedenfalls findet sich in den
Exzerptheften zwischen 1781 und 1802 kein einziger solcher Titel. Aus seiner
Lektüre lassen sich keine Aufschlüsse über seine Vorstellungen gewinnen, wir
müssen uns noch einmal den Träumen selbst zuwenden. Zwar hat er sie keineswegs
wie Lichtenberg mit ausführlichen Kommentaren versehen, aber einige
Rückschlüsse lassen die spärlichen Bemerkungen doch zu.
Seinem ersten Traum61) fügt Hebel am Rande eine Notiz bei: „Wahrscheinlidie
Veranlassung. Es wollte mich des vorigen Tages der verm[eldete] Schüler, der
sehr fleißig in der N[atur] G[eschichte] ist, besuchen" 62). Hebel machte sich also
Gedanken über die Anlässe seiner Träume und suchte sie in äußeren Ereignissen.
Er erklärte damit allerdings nur den Traumbeginn, der eigentlich interessante
Traumverlauf bleibt ohne Kommentar.
Den zweiten Traum63) leitet er mit einer allgemeinen Bemerkung ein: „Man
hat doch im Schlaf ganz andere Einfälle, als im Wachen, wenn schon keine
klügeren" 64). In diesem Satz wird Hebels ambivalentes Verhältnis zum Traum
deutlich. Zum einen ist er erstaunt über das so anders geartete traumhafte Denken,
erfreut über das Eintauchen in eine neue, bisher unbeachtete Welt (auch das kann
als Indiz dafür gelten, daß der Dichter wirklich erst 1804 begonnen hat, sich
mit seinen Träumen zu beschäftigen), zum anderen glaubt er sich aber auch wie
für kindisches Tun entschuldigen zu müssen und wertet die Träume ab. Seine Bemerkung
macht in aller Kürze und Klarheit deutlich, daß Hebel zwischen zwei
Welten steht, der der Aufklärung, die dem Traum höchstens individualpsychologisches
Interesse entgegenzubringen vermochte und das Phantastische, Irrationale
ablehnte, und der Romantik, die sich der Traumwelt in die Arme warf und
sich — wenigstens in der Dichtung — von ihr bezaubern ließ.
In einem Kommentar zum fünften Traumbericht65) macht sich Hebel noch
einmal Gedanken über die Entstehung von Träumen:
Es scheint mir, die erste Entstehung der Träume sei ein unwillkürliches
Spiel der Sinnennerven, besonders der Retina. Dort entstehen die ersten
Bilder, Schwingungen und Eindrücke mechanisch und leiten sich alsdann
zum Sitz der Seele fort, wo sie die nämlichen Wirkungen tun, als ob sie
von wirklicher Wahrnehmung außer uns herrührten. Erst hinterher schafft
sich die Seele Gedanken dazu, veranlaßt dadurch neue Bilder und bindet
sie so gut sie kann in Einheit. Wenigstens mache ich bisweilen die Erfahrungen
, daß ich mir wirkliche äußere Eindrücke, z. B. Schmerz eines
Gliedes oder Töne in dem Traum, den ich gerade alsdann habe, verwebe.
[. . . ] Träumen wohl Blindgeborene? Träumen sie auch in einigem Zusammenhang
? 6S)
Besonders die beiden letzten Fragen tauchen in den Theorien der Aufklärung
immer wieder auf, aber auch die ganze naturwissenschaftliche Argumentationsweise
Hebels weist auf sie. Das ist nicht überraschend. Überraschend aber ist der
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