http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/mgl-1980-03-04/0030
Vor dem kurzfristigen, einseitigen Nutzen und der vordergründigen Kostengunst
verschwindet die Gesamtgestalt des Bauwerks und irgendwann ist es gar keines
mehr; es gleicht eher einer Baustoffausstellung.
Gegen solche Gewohnheiten zu argumentieren ist nicht leicht. Dem beratenden
Planer wird übel genommen, daß er der Hausfrau weiteres lebenslängliches Fen-
stersprossenputzen zumutet und daß seine Vorschläge zu viel kosten. Uber Schönheit
wird nicht diskutiert, denn das hat mit der Wohnung nichts zu tun. Außer
eingefahrenen und von der Baustoffindustrie stets neu eingebleuten Vorurteilen
über die Nutzbarkeit von Einzelbauteilen existiert keine Formvorstellung von
einem Haus.
Mehr als solche Debatten helfen allerdings gebaute Beispiele in der Nachbarschaft
. Der Gemeinschaftsgeist im Dorf ist schon noch so lebendig, daß man nicht
als einziger sein Haus verschandeln will. Möglicherweise ist es dann doch schöner,
wenn es schon viermal in der Zeitung gestanden hat und die Kommission aus dem
Ministerium schon zweimal durchs Dorf gelaufen ist.
Während in mühevoller Kleinarbeit bei den alten Bewohnern des Dorfes ein
Bild vom Wert ihrer Umgebung und ein Bewußtsein ihrer Erhaltungswürdigkeit
sich langsam wieder bildet, rückt eine kleine Gruppe von Stadtflüchtigen mit sehr
genauen Vorstellungen von Dörflichkeit auf die dörflichen Bauten vor. Alte Gebäude
werden aufgekauft und anspruchsvoll umgebaut. Die neuen Dorfbewohner
haben das Dörfliche als Teilstück einer wie immer sonst verstandenen Alternativität
zum Lebens- und Gestaltungsprinzip erhoben und sind nur schwer davon abzubringen
, daß nicht jedes konstruktive Fachwerk den Ort wirklich verschönert und
deshalb unbedingt freigelegt werden muß. Trotzdem ist es einfacher, jemanden
vor Übertreibungen zu bewahren als ihn überhaupt erst zum Verständnis einer
gebauten Form und ihrer erhaltenswerten Eigengesetzlichkeit zu bringen.
Die Dorfbesucher, die Idyllentouristen sind am wenigsten zu beeinflussen und
haben doch nicht unbedeutenden Einfluß auf das Ortsbild. Als Wirtschaftsfaktor
in Erholungsorten formen sie einen zwiespältigen Charakter der Dörflichkeit, den
sie in aller Regel auch durchsetzen.
Auf der einen Seite steht das Dorf als Erlebniswert, zusammengesetzt aus allen
Bilderbuchstandards, die besonders auffallend herausgestrichen werden müssen,
damit man sie nicht übersieht. Auf der anderen Seite wird das Dorf als funktionierendes
Urlaubsrequisit beansprucht, das Ruhe mit fließend kalt und warm Wasser
sowie Bequemlichkeit und Sonnenschein zu bieten hat. So wird für den Fremdenverkehr
die Schwarzdecke über das Dorf gezogen, zwecks leichteren Vorwärtskommens
von Tür zu Tür. So werden die Dorfbäume gelichtet, damit man in Konkurrenz
zur Cote d'Azur bestehen kann.
Es wäre sicher eine lohnende Aufgabe, dem Erholungssuchenden die Werte eines
Dorfes soweit nahezubringen, daß er zwischen wirklichen dörflichen Qualitäten
und einem gut vermarkteten Urlaubskonsumartikel unterscheiden kann und das
erstere vorzieht. Wenn der Planer bei Beratungen im Rahmen der Dorfentwicklung
gelegentlich auf diesen aufgeschlossenen Besucher verweist, für den das Dorf
weder gedankenlos noch übertrieben herausgeputzt bewahrt werden müsse, so tut
er damit wohl einen nicht ganz unbegründeten, aber doch recht weiten Griff in die
Zukunft.
8. Das Dorf als Vorbild für neue Wohnformen
Die Auseinandersetzung mit dem Dorf und die Planung für das Dorf zeigt die
vielfältigen Ursachen, Verflechtungen und Gefahren des immer schneller werdenden
Veränderungsprozesses. Ein neues Verständnis für das Dorf wächst. Ein neues
Selbstverständnis der Dorfbewohner bildet sich heraus.
Die Programme zur Dorfentwicklung greifen dies auf und fördern es nicht un-
236
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/mgl-1980-03-04/0030