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Die Architekturgliederung entspricht dem Formgefühl des Frühen Barock. Joseph Sauer
hob die Malerei hervor »... als charakteristische Proben einer Dekorationskunst, von der
sich nicht allzuviele Beispiele im Lande erhalten haben... (sie) verdienen zweifellos Beachtung
und Erhaltung«.681 Er fuhr später fort: »... Beigefügt soll nur werden, daß die
Malereien in hohem Grade interessant sind als Proben des noch in den ersten Anfängen
stehenden deutschen Barockstiles, in dem noch viel gotische Erinnerungen, vor allem im
Pflanzenornament, und ebenso in Renaissanceformen, ziemlich unausgeglichen und unvorbereitet
nebeneinanderstehen. Namentlich in den Fensterlaibungen über der Westempore
liegt ein fast noch gotisches, sehr feingliedriges Rankenornament vor, in den
Laibungen weiter nach Osten sind erheblich herbere Formen verwendet... «.69) Die Entstehungszeit
setzt Sauer »... rund auf 1590...«.7C) Trotz des 20 Jahre späteren Baudatums
der Kirche - man beachte, daß es sich um eine Dorfkirche handelt - ist man hier auf dem
neuesten Stand.
Es wurden hier schon die Prinzipien realisiert, die der Architekturtheoretiker Josef
Furttenbach d. J. (1632-1655) 1649 in seiner Schrift über den (protestantischen) Kirchenbau71
' postulierte72': flache Decke, Emporen aus Holz. Weiter sollten »... Taufstein, Altar
, Predigtstuhl, Orgel (erhielt die Müllheimer Kirche erst später. Anm. d. Verf.) gar
wohl in das Gesicht und Gehör gerichtet und auf das allernächste zusammengebaut werden
.«7j> D. h. diese Elemente sollten zusammen im Chor plaziert werden, vorausgesetzt
die Kirche besaß einen Chor. Diese 4 für die Abhaltung des Gottesdienstes notwendigen
Ausstattungsgegenstände sollten architektonisch zusammengefaßt werden. Um jedoch
Kosten zu sparen, sollte eine Architektur aus Säulen und Umrahmungen aufgemalt werden
.74'
Zusammenfassend ist festzustellen, daß der Neubau 1610 in seinem Baukörper noch
ganz in der lokalen spätgotischen Tradition steht. Das Innere jedoch ist voll neuer Elemente
. Die Reformation sollte keine Neubildung der Religion sein, daher bestand auch
keine Notwendigkeit, die Kirchen anders als in katholischer Zeit zu bauen. Das Innere
aber wurde den veränderten, neuen Anschauungen angepaßt. Dies bewirkte, daß hier
Formengut zur Anwendung gelangte, das künstlerisch den neuesten Strömungen entsprach
.
Umbauten 1914 und 1920/21
1881 in städtischen Besitz gelangt, wurde die Martinskriche als Lagerraum genutzt.
Aus Latten erstellte Trennwände teilten sie in verschiedene Kompartimente, die an
Handwerker und Kaufleute vermietet wurden.73} Zeitweilig diente die Kirche auch als
Pfandlokal. Auch Gewerbeaussteilungen, Ausstellungen von Kleintieren und Obst und
Gemüse fanden hier statt. Der Turm wurde zur Aufbewahrung von Feuerwehrschläuchen
genutzt. Hierfür brach man in das Tonnengewölbe der Eingangshalle eine Öffnung
. Anläßlich der Dekorierung der Eingangshalle zum 50-jährigen Stiftungsfest der
Feuerwehr im Jahre 1913 traf man auf die Reste der Gerichtsdarstellung und legte sie anschließend
frei.76)
1914 entfernte man die Nordempore und versetzte das Epitaph des Ehepaares Habs-
perg an den heutigen Standort vor den nördlichen Seiteneingang, nachdem dieser zugemauert
worden war.77' Im gleichen Jahr erhielt das Wachhaus südlich der Kirche eine
neoklassizistische Antenfassade78' und wurde mittels eines kleinen Bindegebäudes an das
Kirchenschiff und die Sakristei angeschlossen. In die Südwand der Kirche wurde hierfür
eine Türe eingebrochen. Während der Kriegsjahre diente die Kirche als Unterkunft für
Kriegsgefangene. In den folgenden Jahren - man nutzte die Kirche inzwischen wieder als
Lagerraum - beschloß man, die ehemalige Martinskriche zu einem Versammlungsraum
umzubauen. Das Ziel der Ausgestaltung und des zukünftigen Charakters des Gebäudes
scheint jedoch noch nicht festgestanden zu haben. Als die Umbauarbeiten 1921 began-
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