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und junge Burschen die für eine bestimmte Arbeit benötigte Zahl von Russen an der Kirche
ab, zu der sie am Abend wieder zurückgebracht wurden. Es waren willige, fleißige
Männer, die um jede menschliche Zuwendung dankbar waren. In unserem Nachbarhaus
kam alltäglich der gleiche Russe allein zur Arbeit. Anton hieß er.
Er nahm am Leben der Familie teil. Als einmal der Nikolaus zu den kleinen Buben ins
Haus kam, kniete der Anton nieder und bekreuzigte sich. Am Abend sangen die Russen
in iherer Unterkunft die schwermütig klingenden Lieder ihrer Heimat, in ihrer Freizeit
schnitzten sie gerne bunte Vögel aus Holz, die in mancher Markgräfler Stube von der
Zimmerdecke herunterhingen. Nur einmal sind mir beim »Schirtele« in den Röthi-Re-
ben von fünf Russen drei abgehauen. Der Wald war nahe, ihre Sehnsucht nach Freiheit
mag sie dazu getrieben haben. Ich ließ sie laufen, eingedenk meiner Geographiekenntnisse
, daß es vom Markgräflerland nach Rußland doch recht weit ist.
Bewußt erlebte ich dann nach Kriegsende die Arbeiten zum Ausbau der Kirche zur
Festhalle, die trotz der schlimmen Nachkriegsjahre ausgeführt wurden. Am 10. Juli
1921, einem Sonntagnachmittag, wurde die Festhalle eingeweiht. In gutem Bürgersinn
hatte sich die Bevölkerung einsichtig und opferwillig gezeigt. Fast alle Stühle — etwa 100
Stück - waren von der Einwohnerschaft gestiftet worden, wobei je Stuhl 100,— Mark
angesetzt wurden. Oberlehrer Karl Glatt hatte ein Eröffnungsgedicht verfaßt, das von
Fräulein Margarete Eckerlin vorgetragen wurde. Unter Leitung von Musiklehrer Neininger
sangen die Schüler der Volks- und Realschule Karl Maria v. Webers »Die Sonn erwacht
« und den »Gruß an das deutsche Vaterland« von Otto Glattes. Zur Einweihung
der Festhalle hatte Karl Rauch eine Kunstmappe geschaffen, die zwölf Federzeichnungen
von Motiven der Stadt enthielt. Der Preis der Mappe betrug 50,— Mark. Der Reinertrag
ist vom Künstler zugunsten der Festhalle zur Verfügung gestellt worden. Die in
Müllheim vertretenen Brauereien überreichten als gemeinsame Gabe 2.000,— Mark. Ein
angesehener Müllheimer Bürger übergab 5.000,— Mark. Ihm war das Geld vom Fundbüro
als ehrlichem Finder zu Eigentum übergeben worden, nachdem der Verlierer nicht
zu ermitteln gewesen war.
Eine Gruppe junger Leute, die sich der Bühnenkunst widmeten, hatten von einer Aufführung
der »Ahnfrau« von Grillparzer in der Festhalle den Reinerlös von 750,— Mark
zum weiteren Ausbau der Festhalle zur Verfügung gestellt.
Es war die Absicht der Planer für den Umbau der Alten Kirche zur Festhalle gewesen,
nur ernste Veranstaltungen darin abzuhalten, damit die Würde des ehemaligen Gotteshauses
gewahrt bleibe. So erlebten die Einwohner in den folgenden Jahren hervorragende
Konzerte damals berühmter Quartette, wie Wendling oder Guarneri, ausgezeichnete
Theateraufführungen durch Wander- oder Laienbühnen oder gute Vorträge. Eine Aufführung
von Gerhart Hauptmanns Traumdichtung »Hanneies Himmelfahrt« durch das
Gymnasium ist mir noch lebhaft in Erinnerung. Die Schülerin Eva Tenckhoff spielte ein
unvergeßliches Hannele.
Müllheim war ein Städtchen, das mit ruhigen Atemzügen lebte. Im Amtshaus neben
der Martinskirche wohnten noch die Oberamtmänner und Landräte im zweiten Stock.
Auf dem Turm der Kirche hausten Schleiereulen, die weniger sichtbar als des Nachts
hörbar waren. Der Volksmund machte daraus die Deutung: »Loos, wie der Landrat
schnarcht!«
Mit dem letzten Krieg ist einiges aus dem Gleichgewicht geraten. Auch die Martinskirche
war davon betroffen. Nicht etwa, daß die Stadt am Bau nichts getan hätte. Immer
wieder wurde daran repariert, instandgesetzt, verschönert bis hinauf zur Kirchturmspitze
, in deren Kugel hochinteressante Dokumente aus früherer und heutiger Zeit eingelegt
sind. Aber weil die Festhalle der einzige große Versammlungsraum gewesen ist, wurde
sie mehr und mehr zu einem »Mädchen für alles«. Sie wissen, was ich meine.
Schon einmal, in früheren Zeiten, die ich nicht selbst erlebt habe, war das Gleichgewicht
verloren gegangen. Der Turm der Kirche geriet ins Wanken. Nicht durch ein Erdbeben
, sondern durch den Rat eines Müllheimer Maurers, der Sachverständiger der
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