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mächtigen Dom war ausgeträumt. Ich kam in die kleine Heiligkreuzkapelle vor den Toren
der Stadt, die eben wieder aufgebaut worden war. Von meinem Türmchen aus hatte
ich einen prächtigen Blick zu den Schwarzwaldbergen, hinunter zum wild fließenden
Rhein und hinüber zu den fernen Vogesen.
Nahezu 300 Jahre begrüßte ich die vielen Pilger, die beim Heiligen Kreuz von Neuenburg
Zuflucht und Hilfe suchten. Meine Stimme verkündete Freud und Leid, Jammer
und Verzweiflung. Viele Geschlechter sah ich kommen und gehen, dreimal sah ich den
Untergang Neuenbürgs.
Im Holländischen Krieg, 1675, ich war gerade im 12. Lebensjahr, erlebte ich die totale
Einäscherung der Stadt durch die Franzosen. Ich kam mit dem Schrecken davon, denn
meine kleine Wallfahrtskapelle hat als einziges Gebäude die Zerstörung überlebt.
1704, ich war 41 Jahre alt, wurde Neuenburg im Spanischen Erbfolgekrieg abermals
durch die Soldaten Ludwigs XIV. dem Erdboden gleichgemacht. Gott sei Dank holten
mich die Neuenburger rechtzeitig aus meinem Glockenstübchen, denn nach der Zerstörung
der Stadt machten sich die Soldaten auch über die Kapelle her und rissen sie nieder.
Für die gequälten Neuenburger und für mich begann ein zehnjähriges Exil. Zusammen
mit meinen größeren Schwestern aus der Stadt, darunter unsere im Jahre 1200 gegossene
Patriarchin aus dem Neuenburger Münster, ruhte ich sicher geborgen tief auf
dem Grunde des Altrheins und wartete, bis die Bürger wiederkämen, um uns zu bergen.
Nach dem Frieden zu Rastatt zwischen Frankreich und dem Kaiser war es endlich so
weit, es wurde mit dem Neubau der Kapelle begonnen. Am 1. Mai 1715 konnte ich wieder
zur feierlichen Benediktion meine feine und weiche Stimme erschallen lassen und
zum Gottesdienst rufen.
1740 wurde Maria Theresia unsere neue Landesherrin. Durch den reformbegeisterten
Joseph IL, der nach dem Tod der beliebten Kaiserin im Jahre 1780 den Thron bestieg,
drohte mir eine neuerliche Veränderung. Der Kaiser verfügte die Auflösung der Wallfahrt
zum Heiligen Kreuz und die Niederreißung der Kapelle. In letzter Minute ist es
den Neuenburgern mit einigen Tricks gelungen, uns zu retten.
Im Jahre 1795 war ich Zeugin, als die verstreuten französischen Emigranten den ältesten
Bruder des 1793 hingerichteten Ludwig XVI., Ludwig Stanislaus, in der Nähe meiner
Kapelle zum König Ludwig XVIII. ausriefen. Vier Jahre später übernahm Napoleon
Bonaparte die Macht in unserem Nachbarland. 1806 war das Ende des Heiligen Römischen
Reiches gekommen. Franz II. legte die deutsche Kaiserkrone nieder. Meine Heimat
, die mit kurzer Unterbrechung seit 1331 zum Habsburgerreich gehörte, kam widerstrebend
an das Großherzogtum Baden. 1815 ging auch Napoleons Stern endgültig unter
, denn er wurde nach St. Helena verbannt. 1870 gerieten sich die Deutschen und die
Franzosen erneut in die Haare, doch dieser Krieg blieb für uns ohne grössere Folgen.
Nach einer langen Friedenszeit von über 40 Jahren brach 1914 der Erste Weltkrieg aus.
Am 3. August erklärte Deutschland Frankreich den Krieg. Die Glockenmobilmachung
des Kriegsministeriums im Jahre 1917, der viele meiner Schwestern in Deutschland zum
Opfer gefallen sind, fuhr mir recht arg in die Glieder. Ich habe die Angelegenheit gut
überstanden, denn man hat mich in der kleinen, abseits der Stadt gelegenen Kirche vergessen
, oder hat mich der Bürgermeister einfach nicht auf die von ihm verlangte Liste
über die in der Stadt vorhandenen Glocken gesetzt?
Der Zweite Weltkrieg hat Neuenburg gar arg gebeutelt. Die bereits 1940 dem Erdboden
gleichgemachte Stadt erlebte wie schon 1675 und 1704 die Stunde Null. Auch mir
fügte der Krieg schweren Schaden zu. Bei der Beschießung meiner Heimatstadt stürzte
ich vom Türmchen der abermals zerstörten Kapelle. Neben einigen Schrammen wurde
mir dabei meine Glockenkrone abgeschlagen. Es folgten die Nachkriegsjahre, die Mitbürger
hausten in Baracken, in den Ruinen der Stadt spielten die Kinder. Tüchtig packten
die Neuenburger zu und bauten die Stadt neu auf. Viele Jahre mußte ich warten, bis
auch ich, endlich wieder hergestellt, am 4. Dezember 1958 mein neues Domizil, das
Dachreitertürmchen des wiederaufgebauten Rathauses, beziehen konnte.
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