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Luther und die Toleranz
von W. A. Schulze
Das Wort Toleranz gibt es in der Technik. Es bedeutet dort soviel wie Spielraum. Solcher
Spielraum ist nötig bei Metallen, die sich ja bei Wärme ausdehnen. Die Ausdehnung
ist verschieden, jedes Material hat seinen eigenen Ausdehnungskoeffizienten. Damit es
bei einer etwaigen Ausdehnung keine Verbiegungen gibt, muß von vornherein ein Spielraum
, eine Toleranz, eingeplant werden.
Diese technische Bedeutung von »Toleranz« erscheint mir gut geeignet, um Toleranz
im religiösen Sinne verständlich zu machen. Denn die Traditionen, sowohl die des
Ostens wie des Westens, wollen keine Toleranz gewähren. Der Kaiser Theodosius erhob
die Beschlüsse des Konzils von Konstantinopel (ao. 381), das die arianischen rund 60
Jahre dauernden Streitigkeiten beendet hatte, zum Reichsgesetz. Theodosius, von Geburt
ein Spanier, seit 379 Augustus des Ostens, hatte ao. 380, von schwerer Krankheit
genesen, die Taufe genommen. Als Soldat aus dem Westen hatte er für die philosophischen
und theologischen Spitzfindigkeiten des Ostens, die sich im arianischen Streit austobten
, keinerlei Verständnis. Doch Justinian (482-565) war ein Laientheologe von hohen
Graden, der mit selbstverfaßten Streitschriften in die christologischen Streitigkeiten
seiner Epoche eingriff. Er nahm das Verbot der Wiedertaufe in das Corpus juris civile
auf. Auch andere kirchliche Bestimmungen (canones) bekamen durch ihn den Charakter
von Staatsgesetzen.
Das Mittelalter suchte diese Einheit von Staat und Kirche zu erhalten, in Ost und
West. Leute, die abweichende religiöse Meinungen hatten, galten als Hairetiker (von
haireo = sich trennen, absondern); das Volk sprach von Ketzern. Der Name soll von der
Sekte der Katharer (die Reinen) herkommen, die trotz aller Verbote sich immer wieder
ergänzte. Die Verbrennung von Hus in Konstanz zeigt, daß man auch im Spätmittelalter
noch versucht hat, die Einheit von Staat und Kirche, von Bürgergemeinde und Christengemeinde
, wenn nötig auch mit Gewalt, aufrechtzuerhalten. Der Normaltheologe des
Hochmittelalters, Thomas von Aquin, übrigens ein Großneffe Barbarossas, lieferte dazu
die Begründung.
Trotzdem gab es in diesem Spätmittelalter bereits Anzeichen dafür, daß auch 2 verschiedene
Meinungen, zunächst in der Philosophie, »Spielraum« nebeneinander haben
könnten. Die Franziskaner lehnten sich gegen die Alleinherrschaft des thomistischen Systems
auf. Sie huldigten weithin den Ansichten ihres Ordensgenossen Occam. Dieser
war Engländer, wurde aber theologischer Berater Ludwigs des Bayern bei seinen Kämpfen
mit dem Papst. Er ist in München gestorben. Die Occamisten setzten es durch, daß
an etlichen Universitäten - so auch in Heidelberg - zwei »Wege« geduldet wurden. Die
thomistische via antiqua und die neuere via moderna, die man auch Nominahsmus nannte
. Melanchthon war in Heidelberg in der via antiqua eingeschrieben, Luther jedoch studierte
in Erfurt nach der via moderna. Hier also - allerdings im rein akademischen Rahmen
- gab es schon eine Vorform der späteren religiösen Toleranz.
Echte Toleranz ist zweiseitig. Sie verlangt nicht nur Toleranz für sich selbst, sondern
auch Toleranz für andere. Sehr oft sieht es aber bei der Toleranzforderung für andere sehr
schlecht aus; diejenigen, die lauthals Toleranz für sich selber fordern, sind meistens sehr
bedächtig, wenn es gilt, Andersdenkenden Toleranz zu gewähren.
Daß Luther Toleranz für seine neue Lehre, die er jedoch als die alte empfand, verlangte
, ist offenkundig. Bereits im »Christlichen Adel deutscher Nation«, einer der drei Reformschriften
des Jahres 1520, erhebt er die Toleranzforderung. Er sagt im Blick auf die
Tragödie von Johannes Hus in Konstanz: »Geleit halten, hat Gott geboten. Das sollte
man halten, ob gleich die Welt untergehen sollte, geschweige denn einen Ketzer loszuwerden
. So sollte man die Ketzer mit Schriften, nicht mit Feuer überwinden, wie die al-
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