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Das Markgräflerland: Beiträge zu seiner Geschichte und Kultur
46.1984, Heft 1.1984
Seite: 13
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perlichen Leiden, hatte vollenden können-: Die Flaschenpost.^1 Auch die Flaschenpost
handelt, vom oberrheinischen Heimatraum abgelöst, in der Provence; doch tritt die Bedeutung
dieser Landschaft im Vergleich zur Witive Bosca zurück. Das Paradigmatische
gewinnt noch allgemeineren Charakter: es wird im Schicksal des Helden Richard Wolke,
für den »die Welt... zum Irrenhaus, das Irrenhaus zur Welt« wird, bis ins Groteske gesteigert
.611 Ein satirischer Roman mit »doppeltem Boden« also, und zugleich ein »listiges
Buch«, da es zu Humor verleiten könnte, der sich jedoch dem aufmerksamen Leser als
»Galgenhumor« enthüllt. Es ist tatsächlich, an seinem zeitgeschichtlichen Ort (1936),
aus noch größerer Bitterkeit, ja »Verzweiflung« heraus geschrieben, die aber in der auch
hier gelungenen künstlerischen Objektivierung aufgehoben wurde. So entstand die »tragische
Groteske« eines Mannes, in dessen »todessüchtiger Angst« - wie Schickele gegenüber
Arnold Zweig bemerkt - der Zustand der heutigen Menschheit, in starker Verkürzung
, »auf eine simple Parabel« gebracht erscheint. '

Ein Zug der Objektivierung kennzeichnet auch die essayistische Prosa aus Schickeies
letzten Lebensjahren: sie ist distanziert und beteiligt in einem. Der große Essay über Liebe
und Ärgernis des D. Fi. Lawrence, 1934 geschrieben, faßt die politischen Erfahrungen
wie die künstlerischen und philosophischen Reflexionen Schickeies in einer zum Kunstwerk
verdichteten Gestalt zusammen.by> Thomas Mann, ein Bewunderer dieses Buches,
nennt seine »von Geist und von Kunst funkelnde Analyse« geradezu einen »kritischen
Roman«.64' Daß Schickele seinen Gegenstand, den Anlaß weit ausgreifender Überlegungen
, nun aus dem Bereich der europäischen Literatur wählt, bezeugt die Breite des Hor-
zionts, die er, der längst zum Europäer gewordene Dichter aus der alemannisch-französischen
Grenzprovinz, in der Zeit des Exils gewonnen hatte.

Die Betrachtung jenes angelsächsischen Autors, seiner Werke, seines Lebens, seiner
Ideen ermöglichte es Schickele, sowohl in die Weite der Welt hinauszugreifen, europäische
wie mittelamerikanische Kultur- und Lebensformen einzusehen, als auch, in der
Quintessenz des Ganzen, auf die Heillosigkeit der deutschen Verhältnisse zurückzuschließen
. »Lawrence war ein guter Anlaß«, konnte er seinem Tagebuch anvertrauen,
»sein scheinbar so geschlossenes Werk führt in Wirklichkeit nach allen Richtungen der
Windrose«.6" Das gilt einmal für die Richtung nach innen, in die seelischen Hintergründe
und Untiefen, aus denen sich das gültige Werk wie die schillernde Persönlichkeit des
D.H. Lawrence speisten und deren vorsichtige Enthüllung Schickele zu tiefenpsychologischen
wie zu religiösen Aufschlüssen führte; es gilt desgleichen für den Weg ins Zentrum
des künstlerischen Schöpfertums, das Schickele im eigenen »Gewissen« des Dichters
begründet und geborgen weiß. Dort wurzelte bei Lawrence, der sonst nur »ein
Narr« gewesen wäre, das »Genie des Dichters«. Nach außen hingegen verfolgt Schickele
ebenso unbestechlich jene tatsächlich in die »Narrheit« führenden Spuren und Irrwege,
zu denen seine »große Religion«, der Glaube an den Instinkt und an die Weisheit des
Blutes, D. H. Lawrence verführten. Hierin gründet die politische Relevanz dieser
Schrift, auf die sich Schickele in einem Brief an Stefan Zweig vom 11.9.1934 bezieht:
»Schriftsteller, die gegen die Demokratie kämpfen, sind Narren. Sie reißen sich die Zunge
aus und blenden sich selbst. Ich habe versucht, diese Gewissensfrage in einem kleinen
Buch über D. H. Lawrence zu beantworten ...«.66) So ist der Essay tatsächlich auch »ein
'Situationsbericht'« geworden, der zu allen möglichen Zeitfragen, wenn auch stets mit
dem großen Zusammenhang des Ganzen verwoben, mehr oder weniger verschlüsselt
Stellung bezieht: zur Demokratie und zur Diktatur, zum Sozialismus und zur »Judenfrage
«, zur Religion und zur Psychoanalyse.

Die künstlerische Verwandlung bitterer Zeiterfahrung in den Jahren des provencali-
schen Exils wäre Schickele vielleicht nicht gelungen, hätte er nicht täglich versucht, seinen
»Grimm« über die ihn bewegenden Ereignisse in sein Tagebuch oder in seine Briefe
zu »entladen«. »Jede politische Eintragung in das Tagebuch kostet mich Selbstüberwindung
. Aber auf die Weise werde ich die Politik für den Rest des Tages los«, so notiert er
sich im Mai 1934.67) Ganz ähnlich reagiert und handelt Thomas Mann, der während des

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