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Scheidung, lebte, seine politische Bedeutung und Ausstrahlung. Am unmittelbarsten
galt dies für die »litterature engagee« seiner mittleren Schaffensperiode, zumal für die essayistische
Prosa des Weltkriegsjahrzehnts; bis zu einem gewissen Grade auch für die
große oberrheinische Roman-Trilogie der Zwanzigerjahre. In einem übertragenen Sinne
trifft dies endlich sogar für die Werke seiner Spätzeit zu.
Will man das Politische bei Rene Schickele thematisch bestimmen, so schälen sich einige
Grundfragen heraus, die in vielgestaltigen Abwandlungen sein ganzes Leben und
Werk durchziehen. Sie gehen auf seine Herkunft zurück, die ihn, den Sohn eines Grenzlandes
, zum Erben zweier Völker bestimmte. Folgerichtig führte ihn sein Weg in übergreifende
Zusammenhänge. Man wird Schickele dabei, an jedem Punkte seiner Entwicklung
, der eigenen Zeit weit voraus finden, damit aber auch näher bei unserer Gegenwart.
Er darf als einer der wenigen literarischen Kronzeugen dafür gelten, daß Fragen und
Aufgaben, die heute noch, oder heute erst als Gebot der Stunde erscheinen, schon vor
mehr als einem halben Jahrhundert vorgedacht, vorgelebt und auch gestaltet worden
sind. Sein zur Synthese drängendes Europäertum - gründend zumal auf einem deutschfranzösischen
Einklang, den er selbst mit seiner Person und seinem Werk verkörperte -,
seine Weltoffenheit, sein lebenszugewandter Humanismus, seine entschlossene, den
Militarismus in jeglicher Form verabscheuende Friedensliebe gehörten ebenso dazu wie
sein freiheitsbewußter und menschenfreundlicher Sozialismus, der sich, für einen allerdings
bald enttäuschten Augenblick, im November 1918 einer Erfüllung nahe wähnte.
Schickeies Uberzeugung, daß auch ein gutes Ziel durch böse Mittel zu entwürdigen sei
und bei einer perennierenden Anwendung dieser Mittel das Anrecht verlieren könne, erstrebt
zu werden, ist heute so gültig wie vor fünfzig Jahren. Seine Mahnung aus der 1916
geschriebenen »Genfer Reise« tönt nach bis in unsere Zeit: »Ich rate: seht euch jedes
Ideal darauf an, ob es nicht auch ein Mordwerkzeug abgäbe«.71^
Die üblichen Klischees der politischen Rechten, für die Schickele als ein »Asphaltliterat
« und, besonders mit seinem Pazifismus und in seiner deutsch-französischen Doppelexistenz
, als »wurzelloser Intellektueller« erscheinen mußte, prallen an der Wirklichkeit
seiner Gestalt ebenso ab wie etwa jener, aus der entgegengesetzten Richtung gegen ähnlich
hochgemute und humanistisch engagierte Schriftsteller geschleuderte Vorwurf des
»Kosmopolitismus«. Schickele war dies alles auch; aber er war es nicht einseitig oder
ausschließlich. Das Besondere seiner Natur und, daraus erwachsen, seines dichterischen
Werkes entfaltete sich vielmehr in einem Gleichgewicht des Welthaften mit dem Regionalen
. Ja, gerade den Begriff und die Wirklichkeit von »Heimat«, ihre Entprovinzialisie-
rung und notwendige Ubersetzung aus dem Räumlichen ins Geistige, läßt sich an Schik-
kele beispielhaft erfahren und ideologiekritisch überprüfen. Ein solcher Vollzug bleibt,
inmitten der noch nachwirkenden Folgen des zweiten Weltkrieges, eine Aufgabe bis
zum heutigen Tage, ebenso die Besinnung auf die Möglichkeiten eines Heimisch-Werdens
aus verstandener Herkunft und in gewandelter Umwelt.
An Schickele als »politischen Dichter« zu erinnern, bedeutet daher nicht nur, einen literaturgeschichtlich
nicht ohne weiteres »einzuordnenden« Dichter im Gefolge sich
wandelnder Wertungen an den ihm gebührenden Ort zu stellen; es meint vielmehr, den
Leser der Nachwelt mit einem Vermächtnis vertraut zu machen, an dem er seinen eigenen
Standort abzumessen hat. Unsere literarische und geschichtliche Uberlieferung in
diesem an Jahren schon beträchtlich angewachsenen, von verschuldeten Katastrophen
gezeichneten Jahrhundert kennt gewiß noch größere, in ihrer Produktion bedeutendere
Gestalten; aber nur wenige, deren aufrechter und geradliniger Weg von Anfang an in so
eindeutiger Weise sittlich legitimiert, von Vernunft erhellt und durch die Geschichte bestätigt
worden ist. Das kann auch heute noch eine Lehre sein.
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