http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/mgl-1984-02/0134
Das Retortenbaby überflügelte seine Ziehmutter
Als Rheinfelden 1908 noch zu Nollingen gehörte
von Walter Küchlin
Wir schreiben das Jahr 1908. Die Stadt Rheinfelden auf badischer Seite existiert noch
nicht. Die Geburtsstunde des unter diesem Namen entstehenden Gemeinwesens liegt
aber schon ein paar Jahre zurück. Das Retortenbaby wächst unaufhaltsam, überflügelt
seine Ziehmutter Nollingen und die Nachbarn rheinauf- und -abwärts.
Wissen wir noch, wie es damals war?
Wohl kaum, obwohl uns nur zwei Menschenalter von jener Zeit der stürmischen Aufwärtsentwicklung
trennen.
Doch da kommt uns der Zufall zu Hilfe. Er präsentiert sich in Form des ersten Mark-
gräfler Adreßbuches, das die ehemaligen Amtsbezirke Lörrach, Müllheim, Säckingen,
Schönau und Schopfheim umfaßt und von der Lörracher Buchhandlung C. Poltier-Wee-
ber verlegt und von Buchmann und Waldmeyer in Basel 1908 gedruckt und herausgegeben
wurde.
Ein Blick in die Nollingen und Badisch-Rheinfelden betreffenden nüchternen Angaben
erschließt uns die damalige Situation - einer Momentaufnahme gleich - und läßt uns
erkennen, welch außergewöhnlicher Aufschwung sich bis 1908 in »Badisch-Rheinfelden
« vollzog und wie stürmisch wiederum die Weiterentwicklung und der Wandel gewesen
sind, die wir in den zurückliegenden 76 Jahren für die jüngste Industriestadt am
Hochrhein zu verzeichnen haben.
»Nollingen (mit Badisch-Rheinfelden)« steht da, »2948 Einwohner-Höhe über Meer
288 m. Postbureau in Badisch-Rheinfelden - Postablage in Nollingen. Eisenbahnstation
Badisch-Rheinfelden.«
Soweit der Vorspann, dem dann das Einwohnerverzeichnis unter groß A für Badisch-
Rheinfelden und B für Nollingen folgt, das noch immer den Bürgermeister (Adolf Senger
) für beide Orte gemeinsam stellt. Das ist auch der Grund dafür, daß Badisch-Rheinfelden
- wie es auch auf den Poststempeln offiziell hieß - neben Nollingen, dem ge-
schichtsträchtigen Hauptort, mit einer Erwähnung in Klammer vorlieb nehmen muß.
Wie ist das zu erklären?
Bis zum Bau der Hochrheineisenbahn um 1850 existierte lediglich Rheinfelden auf
Schweizer Seite, das mit dem rechten Rheinufer durch eine - damals noch holzgedeckte -
Brücke verbunden war. Am diesseitigen Brückenkopf stand lediglich ein Zollhaus. Zusammen
mit einigen Bauernhöfen war es eines der wenigen Gebäude weit und breit.
Doch beim Bau der Eisenbahnlinie Basel-Konstanz wurde in der Nähe der alten
Rheinbrücke eine Bahnstation geschaffen, was auf Dauer nicht ohne Folgen blieb. So
gründete die Firma Baumann, Streule & Cie 1894 eine Seidenweberei in Bahnhofsnähe.
Wichtiger aber als der Eisenbahnbau mit der Bahnstation Badisch-Rheinfelden war der
Bau des ersten europäischen Flußkraftwerkes bei Rheinfelden in den Jahren 1895-1898.
Mit ihm war das Retortenbaby mit dem provisorischen Namen »Badisch-Rheinfelden«
in eine Wachstumsphase eingetreten, die ihresgleichen unter den Städten sucht. Bezeichnenderweise
hatten noch 1908 die »Kraftübertragungswerke Badisch-Rheinfelden AG«
die Telefonnummer 1. Es folgten die »Chem. Fabrik, Grießheim-Elektron. AG (heute
Dynamit Nobel) mit der Nummer 2 und die »Aluminium-Industrie AG« mit der Nummer
3.
Der Kraftwerkbau hatte eine rasche Gründung von stromabhängigen Fabriken in unmittelbarer
Nachbarschaft zur Folge, zumal der Transport der »weißen Kohle« damals
noch ein Problem war. Und so entstanden in unglaublich kurzer Zeit Industriebetriebe
wie - außer den schon genannten - die Maschinen - und Jauchenpumpenfabrik Bucher
und Manz als Filiale des Hauptgeschäfts in Niederweningen/Schweiz und die Faßfabrik
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