http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/mgl-1984-02/0152
Im »Ersten Buch« behandelt Kußmaul seine »Kindheit«. Aufgeschlossen steht er in
der »Einleitung« seinem Jahrhundert mit dessen Erfindungen und Erfolgen gegenüber. -
Im Kapitel »Geschlecht und Name« meint er u. a.: »In Süddeutschland gibt es eine Reihe
von Geschlechtern, die mit den Kußmaul namensverwandt sind, die Kuß, Küß, Küß-
wieder und die Maul, die sich ohne Kuß behelfen. Die Küß sind Elsässer ... In Süddeutschland
erregte mein Name weniger Befremden, als in Norddeutschland ... Mein alter
Lehrer und Gönner Naegele, bei dem ich als Student Assistent war, hatte mir derlei
Scenen wiederholt vorhergesagt und mich dringend ermahnt, den Namen zu ändern. Ich
ließ mir aber nicht bange machen ... Meine Familie sei vom ältesten medizinischen Adel.
Wir stammten von dem großen Oribasius ... Os der Mund und Basium der Kuß ...«.-
»Ein 'selfmade man' hat sich mein Vater vom armen Bauernjungen zum tüchtigen Arzt
heraufgearbeitet... Auch an Sonn- und Feiertagen war dem unermüdlichen Manne wenig
Muße vergönnt. Neben seinem Amt als Physikus - so hießen damals die Bezirksärzte
- besorgte er eine große Privatpraxis, meist zu Fuße ... Im neunundzwanzigjährigen
Staatsdienst nahm er nur einmal einen Urlaub von mehreren Wochen ... Weil ich meinen
Vater der ärztlichen Praxis mit Liebe und Eifer nachgehen sah, bin auch ich seinem Vorbilde
gefolgt und Arzt geworden. Er nahm mich schon als Kind oft mit zu den Kranken
auswärts ...«.- In einem eigenen angeschlossenen Kapitel berichtet unser Autor von einem
»Heft meines Vaters aus Schoenleins Klinik 1819-1820«: »Wenn ich darin blättere,
wird es mir wunderlich zu Mute. Ich hospitiere, von meinem Vater eingeführt, bei
Schoenlein in den Sälen des Juliusspitals, der Professor und mein Vater sind jung, junge
Studenten stehen um die Betten, alle stecken in altväterischen Röcken ... Das Heft hat
geschichtlichen Wert. Es gibt einen lebendigen Einblick in den Stand der inneren Medizin
vor 80 Jahren ... Die Würzburger Klinik war eine der größten Deutschlands. Die klinischen
Anstalten unserer meisten Universitäten waren noch äußerst mangelhaft eingerichtet
, viele nur Polikliniken ... Die Hilfsmittel der klinischen Untersuchung waren
noch äußerst dürftig, von Behorchen der Kranken mittelst Perkussion und Auskultation
ist nirgends die Rede ...«. - Munter geben sich »Früheste Erinnerungen«, erste Erlebnisse
des Kindes, psychologisch gedeutet, doch ohne gelehrte Verbrämungen.
1828 war Kußmauls Vater von Emmendingen nach Boxberg versetzt worden. Hier
besuchte Adolf die Volksschule, nachdem er bis dahin schon einigen Unterricht zu Hause
erhalten hatte. »Der Schulmeister war ein baumstarker Mann in den Fünfzigern, ein
gedienter Soldat ... und konnte lesen, schreiben und die vier Spezies rechnen. Deshalb
wurde er wahrscheinlich zum Schullehrer für gut befunden ... es ist mir nichts anderes
daraus geblieben, als ein wenig biblische Geschichte vom König David und seinen
Heldenthaten wider den Riesen Goliath, die Philister und Amalekiter. Dazu erzählte der
Alte uns begeistert, daß er auch beim Kriegshandwerk gewesen und wie er es in Feindesland
gehalten habe. 'Ich sag' auch, ihr Buben,' rief er uns grimmig zu, 'es geht halt nichts
in der Welt über einen rechtschaffenen Reitersmann im Krieg. Der steigt, wenn kommandiert
wird, aufs Roß ... und die ganze Schwadron reitet dem Bauern in den Klee oder
die Frucht ... Da schreit der Bauer, und die Bäuerin jammert, aber da hilft nichts und
muß alles ruiniert werden. Und wenn sich der Bauer widersetzt, so fliegt ihm der rote
Hahn aufs Dach ...«. Als ich meinem Vater erzählte, wie uns der Schulmeister biblische
Geschichte lehrte, schüttelte er den Kopf und nahm mich aus der Schule ...«.
Eine Fortsetzung seiner Schulerfahrungen findet sich »im nahen Flecken Schweigern,
[dort] behandelte mein Vater die Frau des Pfarrers Hermani; sie litt an Schwindsucht,
nahm viel Schneckenbrühe, schlief auch einige Zeit lang im Kuhstall [!], worauf man damals
viel hielt... Aus Freundschaft erbot sich der Pfarrer, mir fünfmal in der Woche Unterricht
zu erteilen, was mit großem Dank angenommen wurde ...«. Doch dies bewährte
sich nicht sonderlich: der Marsch nach Schweigern war von zuviel reifem Obst und allerlei
Getier unterbrochen, der Pfarrer »brach den Unterricht ab und riet meinem Vater,
mich außer Haus bei einem guten Pädagogen unterzubringen ... Aufs neue kam der Lehrer
aus dem Nachbardorf ... und mein Vater versuchte es selbst, mich in das Latein ein-
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