http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/mgl-1985-02/0172
den und daß er - vgl. o. - als Jude beinahe in letzter Stunde des NS-Regimes hätte sein
Leben lassen müssen!). Politische Polemik betrieb er trotz grandioser geisteswissenschaftlicher
Grundhaltung und Kenntnisse bis in die Tagespolitik hinein. Den Avantgardisten
war er schon wegen deren Formlosigkeit stets feindlich gesonnen.
Soviel zu Borchardts Leben und Werk. Über Hof mannsthal müssen wir uns hier nicht
auslassen, er ist der Bekanntere, der Zugänglichere, ein Dichter seiner Zeit schlechthin.
»Dein Brief war mir ein schöner Blick und gute Berührung in einer Zeit in der ich des
einen wie des andern bedürftiger bin denn je...« setzt der Müllheimer Brief aus der
»Werderstraße 29« ein, und er fährt fort, von seiner Einsamkeit »in dieser kleinen geordneten
hygienisch musterhaften Kaserne und Garnison« zu sprechen, »in der ich nun in
den lOten Monat den Korporal spiele«. Mit dem Gedanken, daß ihn Hofmannsthal
(selbst zu diesem Zeitpunkt in Armee- bzw. Missionsdiensten) hierzulande besuchen
käme, liebäugelt er sozusagen zwischen den Zeilen. Doch: »Ich kann täglich ein Verladungsetikett
bekommen und in einen Waggon gesteckt werden der irgendwo hinfährt
und mich an einem Schützengraben oder dem Vorgelände einer Schlacht hinausstülpt.
Nach mißlungenen Versuchen, in den Beförderungs Mechanismus hineinzukommen,
der am einen Ende Kriegsfreiwillige einnimmt und am anderen frischbackene Leutnants
entläßt - man nennt das 'Offizierskurse' - habe ich mich an die italienische Front gemeldet
... Wie ich darauf brenne, nützlich zu sein kann ich Dir nicht sagen...«. Aufschlußreich
neben dem eigenartigen Stil und der eigenwilligen Satzzeichensetzung alsdann die
Überlegungen: »Nach dem Kriege - man kann es sich nicht ausdenken. Ja, Hugo, wir
wollen einander nicht mehr lassen ... Seit siebzehn Jahren hänge ich an Dir als am edelsten
meiner menschlichen Lebenswerte ... Denke, wie ich, an unsere Kraft den ungeheuren
Schrecken zu versöhnen; denke, daß, seit Generationen zum ersten Male wieder, der
Dichter eine Funktion hat. Nicht die der Kriegsliederfabrikation vor der mir ekelt; sondern
die, die Welt der Welt zu erklären, die aufgehört hat sich zu begreifen und daran fast
zu Grunde geht...«. Das sind zweifellos keine alltäglichen Worte und Ansichten, und
auch als jugendliches Schwärmertum es zu definieren, wäre wohl fehl am Platze. Bor-
chardt schreibt vielmehr in echter dichterischer und auch schon menschlicher Ergriffenheit
. In diesem Sinn sind auch die beiden Publikationen »Der Krieg und die deutsche
Selbsteinkehr« (Heidelberg 1915) sowie »Der Krieg und die deutsche Verantwortung«
(Berlin 1916) zu verstehen. Schmale Bändchen, kluge Reden, auf Veranlassung der
»Deutschen Gesellschaft 1914« gehalten und von der Notwendigkeit des Krieges ohne
Pathos und ohne Chauvinismus letztlich doch überzeugt. Auf großer und hoher Ebene
rednerisch mit Niveau angegangen und doch auch wieder dem Tagespolitischen seltsam
verpflichtet. In dieser Hinsicht kann man Borchardt geradezu als schizophren bezeichnen
, so wie er selbst vom »neuen Schisma Europas« spricht.
Es ist viel über Borchardt und sein Oeuvre geschrieben worden. Das Positive überwiegt
: vor seiner Sprachgewalt und Sprachfähigkeit beugen sich auch die intensivsten
Kritiker. Seine Diktion und seinen Stil einmal in einem Brief zu erfahren, der in unserm
Raum entstanden, dürfte interessieren, wenn nicht faszinieren.
Ä
In Ergänzung zu obigen Ausführungen, die sich ja letztlich auf mehr überregionaler
Ebene abspielen, möchten wir uns das Müllheim jener Jahre vergegenwärtigen. Wir
wählen hierzu einen »Führer von Müllheim - Im Auftrag des Gemeinnützigen Vereins
Müllheim bearbeitet von Otto Teichmann«, erschienen anno 1931 im »Verlag des Gemeinnützigen
Vereins Müllheim« und gedruckt von den »Markgräfler Nachrichten
170
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