http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/mgl-1988-02/0043
Als ab dem 3. August 1870 starke deutsche Truppenverbände die Lauter überschritten
, hatte man im Elsaß seit sechsundfünfzig Jahren keine feindlichen Soldaten mehr
gesehen. Nach den schweren Niederlagen der schlecht organisierten französischen
Heere bei Weißenburg und Fröschweiler-Wörth, die das Ende des Krieges bereits vorwegnahmen
, rückten die Deutschen nach Süden vor: nur die Städte leisteten noch Widerstand
. Am 12. August stand die Armee des badischen Generals von Werder vor
Straßburg. Als der französische Befehlshaber. General Uhrich, die verlangte Übergabe
der Stadt ablehnt, befiehlt Werder die Beschießung. Sie zieht sich über sechs Wochen
hin. fordert Hunderte von Opfern unter der Zivilbevölkerung und verursacht große
Zerstörungen, auch am Münster. Die Stadtbibliothek geht in Flammen auf und mit ihr
unersetzliche Kunstschätze aus dem Mittelalter, darunter der "Hortus deliciarum" der
Herrad von Landsberg, der Äbtissin von Ste. Odile. Die Straßburger nennen Werder
den "Mörder" (le meurtrier): in badischen Städten sind bis heute Straßen nach ihm benannt
.
Keine vier Wochen nach Kriegsausbruch, am 14. August, werden mit der Einsetzung
des Grafen von Bismarck-Bohlen als Generalgouverneur die Pläne der Sieger für das
Elsaß bereits deutlich. Im Frieden von Frankfurt (10.Mai 1871) muß Frankreich die de
facto vollzogene Annexion anerkennen. Im Juni wird dann das Elsaß (ohne Beifort)
mit dem Mosel- und Teilen des Meurthe-Departements zum deutschen "Reichsland"
Elsaß-Lothringen.
Wenn auch wirtschaftliche und vor allem militärische Erw ägungen eine Rolle spielten
, so war Elsaß-Lothringen doch vor allem als ein Teil der deutschen Kulturnation
vom neuen Deutschen Reich beansprucht worden. Aber der überwiegenden Zahl der
Elsässer war diese Sicht durchaus fremd: ihre Loyalität gehörte Frankreich. Dort galten
die modernen Prinzipien der Freiheit und Gleichheit. Deutschland aber verkörperte
immer noch das Ancien Regime. Man mag darüber streiten, ob das wilhelminische
Deutschland im Alltag tatsächlich hinter dem Frankreich Napoleons III. zurückblieb:
aber noch seine Diktatur war rational herleitbar aus der Zustimmung der Beherrschten
. Dagegen mußte das Gottesgnadentum Wilhelms I. und seiner Fürstenkollegen wie
ein Fossil aus einer überwundenen Welt anmuten. Mit den Augen der Elsässer von 1871
betrachtet, wird die Rückständigkeit des deutschen politischen und gesellschaftlichen
Systems in großer Schärfe deutlich. Friedrich Engels hat 1888 diese Deutung in der
deutschen Geschichte wie in der Politik gegenüber dem Reichsland festgemacht, wenn
er feststellt, der Widerwille der Elsässer gegen die Annexion sei eine geschichtliche Tatsache
, "die nicht heruntergerissen, sondern erklärt sein will. Und da müssen wir uns
fragen: Wie viele und wie kolossale geschichtliche Sünden mußte Deutschland begehen
, bis diese Gesinnung im Elsaß möglich wurde? Und wie muß unser neues deutsches
Reich sich von außen her ausnehmen, wenn nach siebzehn Jahren des Wiederver-
deutschungsversuchs die Elsässer uns einstimmig zurufen: verschont uns damit?"'*
Was hier angesprochen wird, ist der Protest gegen die Angliederung an Deutschland.
Er hatte seinen ersten Ausdruck am 17. Februar 1871 gefunden, als die elsaß-lothringi-
schen Abgeordneten in der Nationalversammlung von Bordeaux feierlich ihr Recht
und ihren Willen verkündeten, französisch zu bleiben. Er setzte sich fort in der Option
für Frankreich, die der Friedensvertrag von Frankfurt den Elsässern und Lothringern
bis zum 1. Oktober 1872 ermöglichte und von der rund 50.000 Personen Gebrauch
machten. Er kam schließlich zur Geltung in der Stimmabgabe zu den Reichstagswahlen,
bei denen bis Ende der achtziger Jahre vorwiegend Abgeordnete gewählt wurden, die den
Widerspruch gegen die Annexion zu ihrem Programm gemacht hatten. Ihren Einstand
1874 in Berlin gaben sie mit einer feierlichen Wiederholung der Erklärung von Bordeaux.
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