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Während der Naziherrschaft waren rund 15.000 Elsässer interniert, deportiert oder
im Gefängnis: das sind rund 1.5 % der Gesamtbevölkerung und damit siebenmal mehr
als im übrigen Frankreich. Man mag ermessen, mit welchen Hoffnungen im Elsaß der
Vormarsch der Alliierten nach der Invasion verfolgt wurde. Vor der Befreiung aber war
das Land noch harten Kampfhandlungen ausgesetzt: zahlreiche Ortschaften, zum Beispiel
im Gebiet nördlich von Colmar. Ammerschwihr. Sigolsheim oder Mittelwihr. wurden
vollständig zerstört. Die großen Soldatenfriedhöfe der Vorbergzone geben eine
Vorstellung von Ausmaß und Härte dieser sinnlosen Kämpfe.
Nach der Befreiung begann, wie überall in Frankreich, die Abrechnung mit den Kollaborateuren
. Die elsässischen Kreisleiter Mourer. Bickler. Hauss und Schall wurden
zum Tode verurteilt, ebenso wie Robert Wagner und Karl Buck. der Kommandant des
Struthofs. Dr. Ernst und Joseph Rosse müssen lange Freiheitsstrafen verbüßen. Beider
Schicksal ist nicht frei von Tragik: Die Redlichkeit ihrer Absichten braucht nicht in
Zweifel gezogen zu werden; aber weil sie für ihr Land wirken wollten, wurden sie doch
zu Werkzeugen derVergewaltiger. "Das ist der Fluch des Zeitalters." schreibt Reinhold
Schneider über seinen Freund Joseph Rosse, "daß man der falschen Macht innerhalb
ihres Bannkreises nicht begegnen kann ohne Bündnis mit ihr."~1 Das mag auch für die
rund 650.000 Elsässer gelten, die sich den verschiedenen Nazi-Organisationen angeschlossen
hatten. Die Franzosen hatten dafür kein Verständnis, dergleichen hatte es in
Innerfrankreich natürlich nicht gegeben. Aber es ist eben ein Unterschied, ob man als
Angehöriger eines besetzten Landes halbwegs in Ruhe gelassen oder als "Völksgenosse
" beansprucht und zum positiven Bekenntnis zum Besatzer ständig gedrängt
wird. Viele Franzosen konnten oder wollten in ihrer jakobinischen Sichtweise nicht anerkennen
, daß die Situation im Elsaß ganz anders als im übrigen Frankreich gewesen
war. So kam es in den ersten Jahren nach dem Krieg immer wieder zu Mißverständnissen
. Ein Beispiel ist der Prozeß 1953 in Bordeaux gegen zwölf Elsässer. die 1944 am
Massaker gegen das Dorf Oradour-sur-Glane hatten teilnehmen müssen. In der Berichterstattung
der französischen Presse war immer wieder die Gleichsetzung "Elsässer =
Nazi" angedeutet, was im Elsaß selbst ungeheure Empörung auslöste.
In zwei wesentlichen Bereichen war die Situation nach 1945 ganz anders als nach
1918. Der Autonomismus war als politische Kraft erledigt. Er war diskreditiert durch
die Kollaboration seiner Führer wie durch seine Indienstnahme durch die Nationalsozialisten
. Sie zeigte den Elsässern, in welche Verstrickungen sie geraten konnten, wenn
sie sich nicht eindeutig genug zur französischen Nation bekannten. Damit hängt als
zweites zusammen, daß es bei der Abschaffung des Deutschunterrichts an den Grundschulen
und überhaupt bei der Zurückdrängung der deutschen Sprache so gut wie
keine Widerstände gab. Deutsch, das war die Sprache der Kommandos an der Ostfront
und der Appelle im Struthof, dafür wollte niemand mehr auf die Barrikaden gehen.
Man war - schweigend - bereit, sich auch sprachlich an die französische Nation anzugleichen
, zu der es keine ernsthaften Alternativen mehr geben konnte. Frederic Hoffet hat
diese Entwicklung mit dem Satz auf den Punkt gebracht, daß Hitler mehr für die französische
Sache im Elsaß getan habe als alle Patrioten zusammengenommen.26)
Die entscheidende Entwicklung nach dem Krieg ist sicherlich die fortschreitende
Einigung Europas gewesen. Ihr Kernstück ist die deutsch-französische Versöhnung, die
wiederum ein völliges Desinteresse der deutschen Politik am Elsaß zur stillschweigenden
Voraussetzung hat. Sie hat den Druck vom Elsaß genommen, der jahrhundertelang
auf ihm gelastet und seine Entwicklung beeinträchtigt hat. Seit dem 17. Jahrhundert
war es in eine Randlage als militärisches Glacis gedrängt. In einem einigen Europa aber
liegt das Elsaß in der Mitte, offen nach allen Seiten. Zum ersten Mal seit dem Mittelal-
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