http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/mgl-1988-02/0134
schichtliche Größe atmenden "Adieu in Fontainebleau" aus seinem Kalender zu verabschieden
. Keinesfalls zeigt Hebel den besiegten Korsen als gejagten Unruhestifter in
Europa, den man endgültig zur Strecke gebracht habe, im Gegenteil: Mit von der Partie
in Fontainebleau ist noch Bonapartes treuester General Ney, der "brave des braves
", an dem die Anhänglichkeit Frankreichs und der Soldaten an ihren geliebten "Em-
pereur" und dessen Unbesiegtheit demonstriert wird.
Deutlich wird hier spürbar, daß der steile Aufstieg und jähe Sturz Napoleons im fernen
Paris dem badischen Kalendermacher in Karlsruhe innerlich sehr nahegehen.
Diese Abschiedsszene in Fontainebleau ist auch das mutige "Adieu" des alemannischen
"Hausfreunds" an den Kaiser der Franzosen: Eigentlich erleidet nur der Gedanke an
die Thronfolge eine unwiderrufliche Niederlage.
5. Das politische Credo des Kalendermannes - Versuch einerWertung
Sämtliche Kalendergeschichten - diejenigen über Napoleon eingeschlossen - legen
beredtes Zeugnis ab vom tiefen Glauben Hebels an Menschlichkeit und Achtung vor
dem Leben. Und im Rückgriff auf diesen Humanismus, den manche Autoren der alten
Basler Tradition des Erasmus zuordnen, urteilt Hebel über die politische Lage auch seiner
badischen Heimat in jener schwierigen Zeit.
Sicherlich mag er gegenüber Napoleon, dem siegreichen Feldherrn und wahren Herrscher
über Kontinentaleuropa, insbesondere im Hinblick auf die sozialen Neuerungen,
die dieser mitbrachte, nicht ablehnend gegenüber gestanden sein. Doch ob Hebel effektiv
eine so stark ausgeprägte Empfänglichkeit für imperiale Herrschergestalten besaß
, muß angesichts des von Napoleon ausgeübten starken politischen Drucks als zumindest
fraglich dahingestellt werden.
Dem alemannischen Temperament des Karlsruher Schuldirektors Hebel mag zu jener
Zeit französisches Wesen und Lebensart mehr Bonhomie und Menschengüte inspiriert
haben als etwa das strenge, auf militärischer Disziplin aufbauende Preußen, zumal
dieses sich soeben eine äußerst blutige Abfuhr von Napoleon eingehandelt hatte. Und
das kaiserliche Österreich, für das der launige Junggeselle Hebel in den Karlsruher
Wirtshäusern wohl eher scherzhaft noch Partei ergriff, häufte Niederlage auf Niederlage
gegen den französischen "Empereur". Viel Kredit verspielte Habsburg dann durch
Erzherzogin Marie Louises Heirat mit Bonaparte, die Hebel in Briefen heftig anprangerte
angesichts der noch kurz zuvor hartnäckig und verlustreich geführten Kämpfe
zwischen Franzosen und Österreichern.
Unter Einschluß dieses "nichtöffentlichen" Aspekts dürfen dem "Bildermann"
durchaus ein präziser Sinn und Empfänglichkeit für politische Realitäten unterstellt
werden. Und von hier aus gewinnt Hebels politisches Credo, "es als Kalendermann immer
mit der siegreichen Partei halten zu müssen", eine völlig neue und unerhörte politische
Dimension. Hebel war kein politischer Phantast, trotz allen romantischen Flairs
und der Märchenhaftigkeit, die seinen Kalendergeschichten oft anhaftet.
So bedarf er auch keiner "politischen Entlastung" wie andere deutsche Schriftsteller
der napoleonischen Ära. Seine "publizistischenTaten" im Hinblick auf Napoleon und
den Gegner Frankreich waren moderat und sind mit dem Hinweis auf Zensur und politischen
Kurs der badischen Regierung mehr als hinreichend gedeckt. Mit dem gutgemeinten
Rat, Hebels politische Stellungnahmen im Kalender als "ein Stück Propaganda
" abzutun, das "in politicis nicht ganz ernst zu nehmen" sei, wird man allerdings
weder der schriftstellerischen Persönlichkeit des Autors noch der immanenten Brisanz
des politischen Inhalts seiner Schriften gerecht.
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