http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/mgl-1989-01/0067
Die brennenden und zertrümmerten Synagogen, die zerschlagenen Geschäfte der jüdischen
Mitbürger, die geschändeten Friedhöfe, die rund 30 000 Inhaftierten und die
100 qualvoll Erschlagenen sind ein Mahnmal in der deutschen Geschichte.
Der Pogrom vom November 1938 war der Abschluß der nationalsozialistischen
Machtergreifung:
Das Verbrechen wurde gezielt und offen in den Dienst des Staates gestellt. Das Fundament
des Rechtsstaates wurde gesprengt. Bürgerliches Gesetzbuch. Strafgesetzbuch
. Menschenrecht und Menschenwürde wurden außer Kraft gesetzt.
Die Synagogen brannten lichterloh und Deutschland verfiel in Düsterkeit.
Wir fragen uns heute, wie kam es so weit? Im Programm der NSDAP von 1920 lautete
ein Punkt:
"Wir fordern, daß alle Nicht-Deutschen, die seit dem 2. August 1914 in Deutschland
eingewandert sind, sofort zum Verlassen des Reiches gezwungen werden."8'
Diese Parteiprogrammatik wurde nach 1933 zur offiziellen staatlichen Politik. Sie
richtete sich besonders gegen die aus dem Osten eingewanderten Juden, die nun nach
Polen abgeschoben werden sollten. Um dies zu verhindern, erließ Polen am 31. März
1938 ein Gesetz, wonach alle Polen, die mehr als 5 Jahre aus dem Land weg waren, ausgebürgert
werden. So wurden über 50 000 Juden polnischer Herkunft in Deutschland
staatenlos.
Zu diesen nun Staatenlosen gehörte auch die Familie Grynszpan aus Hannover. Sie
wurde am 28. Oktober 1938 in Abschiebehaft genommen und mit 10 Mark und einem
kleinen Handgepäck zur polnischen Grenze gebracht. SS-Mannschaften trieben sie mit
Peitschen über die Grenze, die von Polen versperrt wurde.Tausende von Juden froren
und hungerten im Niemandsland zwischen den Grenzen. Unter dem Druck ausländischer
Journalisten gaben beide Staaten nach: Polen nahm einenTeil auf. der andere Teil
konnte an seine bisherigen Wohnorte zurückkehren.
Die Familie Grynszpan kam nach Polen. Der 17jährige Sohn Herschel war um diese
Zeit bei Verwandten in Paris. In jugendlichem Übereifer wollte er - nach eigenen Worten
- die Juden rächen und die Aufmerksamkeit der Welt auf die Vorgänge in Deutschland
lenken.9'
Er beschloß, zum Protest ein Mitglied der deutschen Botschaft in Paris zu erschießen
.
Er kaufte sich am 7. November 1938 einen Revolver und ging zur Deutschen Botschaft
, angeblich um ein Dokument abzugeben. Zum 3. Sekretär und Militärattache
vom Rath geführt, gab er auf diesen zwei Schüsse ab. Diesen Verletzungen erlag Ernst
vom Rath am 9. November.
Der 9. November war für die NSDAP ein besondererTag. 1923 versuchte an diesem
Tag Hitler mit dem Marsch zur Feldherrnhalle einen Putsch in Bayern, einen Staatsstreich
. Alljährlich traf er sich nun mit der "alten Garde" in München. So auch 1938. Alles
, was Rang und Namen im 3. Reich hatte, war versammelt. Hier erhielt Hitler die Todesnachricht
und gab es an Goebbels weiter. Nach Hitlers Verabschiedung erhob sich
Goebbels und nahm denTod vom Raths zum Anlaß für eine fanatische, antisemitische
Rede. Er wies darauf hin. daß judenfeindliche Kundgebungen in Kur-Hessen und in
Magdeburg-Anhalt spontan stattgefunden haben als Vergeltungsaktionen des empörten
Volkes und daß weitere zu erwarten seien. Er stellte fest, daß die Partei solche Aktionen
zwar nicht zu organisieren habe, sie solle sie aber auch da. wo sie spontan entstünden
, nicht hindern. Diesen Appell deuteten die anwesenden Parteigrößen dahin,
daß die Partei nach außen nicht als Urheber der Demonstrationen in Erscheinung zu
treten habe, sie in Wirklichkeit aber organisieren und durchführen soll.
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