http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/mgl-1990-01/0025
verhindern, daß die Stadt Neuenburg wieder in die Hände der Österreicher falle, beschloß die
französische Heeresleitung, Neuenburg "von Grund auf innerhalb von neun Tagen" zu
zerstören.
Konstantin Schäfer beschreibt in seinem Buch über die "preisgegebene Stadt" die tragischen
Ereignisse des Jahres 1704. die sich zur bisher schwersten aller Katastrophen ausweiteten, wie
folgt: "Am 20. April 1704 kam der Oberbefehlshaber. Marschall Tallard. nach Neuenburg, um
die Stadt zu besichtigen.
Es war am 25. April 1704. Die Markusprozession war durch die Straßen der Stadt gezogen.
Vor den Häusern standen noch die Menschen, unterhielten sich über die Aussichten des Jahres
und über die kleinen Sorgen des täglichen Lebens. Sie erzählten sich von den merkwürdigen
Zeichen, die manche gehört haben wollten. In der Nacht habe sich das Getöse anmarschierender
Soldaten der Stadt genähert, die Franzosen seien unter die Waffen getreten. Es sei gew esen.
wie schon 1675. als man Feuerzeichen am Himmel gesehen habe. Einer habe auch gesehen,
daß das Wallfahrtsbild in der Kreuzkapelle vor den Toren der Stadt in diesen warmen,
trockenen Tagen plötzlich zu tränen begonnen habe. Da wurden in den Gassen die Trommeln
gerührt. Die Menschen strömten zusammen. Was mochte es Neues geben? Marschall Tallard
ließ bekanntmachen, daß die Regierung des Königs beschlossen habe, innerhalb von neun
Tagen die Stadt dem Erdboden gleichzumachen. Mauern. Tore und Türme zu sprengen, die
neuaufgeworfenen Befestigungswerke und Pallisaden niederzureißen und einzuebnen. Gleichzeitig
ließ er dem Magistrat der Stadt den Beschluß mitteilen, daß die Einwohner innerhalb
dieser Zeit die Stadt zu räumen hätten. Es sollte ihnen erlaubt sein, ihr bewegliches Gut mit sich
fortzuführen. Das Herz schien den Bewohnern vor Schrecken stillstehen zu wollen.
Das bedeutete die restlose Vernichtung. Als wieder Leben in die Erstarrten kam. liefen sie
schreiend ihren Behausungen zu. Durch die Gassen, durch die vorher noch die frommen
Gesänge der Prozession geklungen w aren, tönte der Jammer. Vergessen w ar das Welttheater
draußen in den deutschen Landen. Riesengroß stand das eigene Unglück über der Stadt und vor
den Seelen. Das Schicksal der Preisgegebenheit hatte sich in seiner letzten Konsequenz erfüllt.
Noch glaubte der Magistrat, das Schlimmste abwehren zu können. Er wandte sich an den
königlichen Statthalter in Straßburg.
Der königliche Statthalter wie der Marschall lehnten jede Begnadigung ab. Sie erlaubten den
Bürgern, ihre Häuser selbst abzureißen und Ziegel. Holz. Fenster und Türen mit wegzuführen.
Welch ein grausiges Symbol der inneren Selbstauflösung!
Der 1. Mai war als letzter Tag der Räumung festgesetzt. Pfarrer Christen hielt einen letzten
Gottesdienst in dem mit vielen Opfem erst vor fünf Jahren fertiggew ordenen Gotteshaus. Am
Nachmittag versammelten sich die Einwohner vor der Kirche. Pfarrer Christen nahm Abschied
vom Gotteshaus und der Stadt, nahm das Allerheiligste vom Altar, und. während schon die
Steine der Mauern unter den Stößen der Zerstörer ins Schiff stürzten, schritt er die Treppe zum
wartenden Volk hinab. Die Einwohner folgten ihm klagend und jammernd. Es war am
Himmelfahrtstag 1704. Bald lag das Obere Tor hinter ihnen. Hinter ihnen eine verlorene
Heimat. Hinter ihnen der geschlossene Kreis. Müde schleppten sich ihre Schritte durch den
Staub der Straße. Wesenlos das Blühen des Frühlings um sie. Der Wonnemonat begann. An
der Heilig-Kreuz-Kapelle hielt der Zug. Als sie sich zur Stadt zurückwendeten, sahen sie die
Staubwolke der in sich zusammenstürzenden Pfarrkirche aufsteigen. Der Staub der niederbrechenden
Häuser war der Löschsand auf dem letzten Blatt der Geschichte der Stadt."
Pfarrer Johann Jakob Christen der Jüngere schrieb in das Pfarrbuch: "Was für ein Jammern
und Weinen der Weiber und Kinder das gewesen, dessen hätten sich die Steine erbarmen
mögen."
Neuenburg am Rhein war ausgelöscht, die Bürger ins Exil getrieben. Zehn lange Jahre durfte
die Stadt nicht mehr betreten werden. Und wieder Pfarrer Christen: "Es erforderte viele Zeit
23
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/mgl-1990-01/0025