http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/mgl-1991-02/0092
Wasterkingen. von dort über Eglisau nach Zürich, wo ich abends ankam. Am 16. abends habe
ich ein geeignetes Zimmer auf dem Frohberg oberhalb Stäfa am oberen Zürichsee gefunden
..." (S. 186).
Noch vor einigen Jahren wäre diese Handlung als Feigheit oder Drückebergerei verstanden
worden und hätte kaum den Anspruch erheben können, als Konsequenz eines anderen
Denkens, einer oppositionellen, dem Leben und der Sittlichkeit verpflichteten Wertorientierung
diskussionswürdig zu sein. Am Beispiel Raphaels zeigt sich indes, welche moralische
Unerbittlichkeit und welche ethische Ernsthaftigkeit seinem Verhalten zugrunde lagen. Mit
Bezug auf Raphaels Biographie aber bietet es sich geradezu an. die Desertion mit seinem
Selbstmord in Beziehung zu setzen: So. wie er sich 1917 den Anforderungen und Verfügungen
des militärischen Machtapparats entzog, so hatte er. dem der Lebensüberdruß lange
genug vertrautes Existenzgefühl gewesen war, inmitten der "'geistigen und moralischen
Wüste Amerika" (5) einen endgültigen Schlußstrich gezogen. In seinem eingangs erwähnten
Porträt spricht Hans-Martin Lohmann von Max Raphael als einem Charakter, "dessen
geistig-moralische Unbedingtheit. man ist geneigt zu sagen: Reinheit, seine Unfähigkeit zu
irgendeiner Art von Gemeinsamkeit, gar Komplizenschaft mit dem Zeitgeist zeigt" (6). So
gesehen, haben die Unbekanntheit Raphaels bzw. seine späte Entdeckung auch eine plausible
Seite: er war einer jener Un-zeitigen, deren Unglück es war. ihr Beispiel zu früh gegeben zu
haben und nur von ganz wenigen verstanden worden zu sein. Heute, da dieses Beispiel auf
uns so erregend wie verbindlich wirkt, ist er uns noch in seinem Scheitern näher als viele,
deren Lebensleistung mit Erfolgen in Verbindung gebracht wird.
Anmerkungen
Wo nur Seitenangaben vermerkt sind, beziehen sich diese auf Max Raphael, "Lebens-Erinnerungen.
Briefe. Tagebücher. Skizzen. Essays." Herausgegeben von Hans-Jürgen Heinrichs. Frankfurt am Main/
New York:Edition Qumran im Campus-Verlag 1985.
(1) "Geisterfahrer. Blanqui. Marx. Adomo & Co. 22 Porträts der
europäischen Linken". Hamburg: Junius-Verlag 1988. 228 S.
(2) Hans-Martin Lohmann. "Der Tod ist dem Leben immanent. Zur Biographie Max Raphaels". In:
Die Sammlung Junius. Ein Leseheft.
Hamburg: Junius o.J. (ca. 1989). S. 39
(3) Ebenda. Seite 40
(4) Unter dem 9. August 1915 hatte Raphael ein dramatisches Szenario zu einer "Tragödie des
geistigen Menschen" verfaßt, das. von den Jahreszeiten sowie kunstgeschichtlichen Epochen
inspiriert, die Harmonie der schöpferischen, sozialen und individuellen Komponenten menschlichen
Handelns glückhaft beschwört. Vgl. "Lebens-Erinnerungen". S. 60 f.
(5) Hans-Martin Lohmann. "Der Tod...". S. 41
(6) Ebenda. S. 40
Für die aufwendige Suche nach Bildmaterial sei Frau Danuta Meierski vom Stadtarchiv Lörrach
herzlich gedankt: für die Klärung von Sachfragen Herrn Markus Moehring vom Museum am
Burghof. Lörrach.
90
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/mgl-1991-02/0092