http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/mgl-1992-02/0142
ist ein Rosenzweig, da sind Blattreihen, Chimären, Wasserspeier mit Adlersflügeln und
Entenfüßen, aber auch hochgotische Maßwerke, Fialen, Krabben und Kreuzblumen. Eine
Blattreihe, vor dem Turm noch flach, am Turmmassiv mehr Knollenblätter, wächst eigentümlich
gesimslos aus den Steinen. Schließlich wäre der auffallende Unterschied in der
Detailbehandlung zwischen Turmkomplex und Schiff auch als bewußter Formenkontrast
deutbar. Dies ist eine Tendenz, die unser Jahrhundert gelegentlich als "Kontrastarchitektur"
positiv zu werten versteht.
Ich habe es vermieden, die Schopfheimer Evangelische Stadtkirche an historisch-gotischen
Beispielen wertend zu messen. Diese Architektur kann und will ihre Berechtigung
nicht allein aus einem Vorbild ziehen, sie will nicht Kopie sein. Sie ist eigenschöpferisch und
originell, vor allem im Raumgestalterischen, in der Fähigkeit, überlieferte Teilformen mit
neuen zu kombinieren, und im Ausnützen der dabei entstehenden Überraschungseffekte. Die
Kirche muß auch auf Zwecke einer Predigtkirche des 19. Jahrhunderts eingehen, und sie
reagiert auf diese und nicht auf mittelalterliche Gegebenheiten.
Bisher haben wir uns fast ausschließlich mit den architektonischen Formen befaßt. Wir
suchten Großkompositionen und Details auf, wir fragten nach historisch überlieferter oder
neu erfundener Form. Es fehlt aber in der Betrachtung noch ein weiterer Blickwinkel: die
Bedeutung der Formen. Jede Form ist nicht nur in sich gültig, sie trägt auch eine Bedeutung.
Es kann sein, daß solch eine Bedeutung nicht für jedermann ersichtlich ist. es kann sein, daß
diese erst erlernt werden muß. Dies ist das Gebiet, das in der Kunstwissenschaft die
Bconologie der Architektur genannt wird.
Zuerst ein einfacher Fall: über dem Hauptportal der Schopfheimer Evangelischen Kirche,
inmitten des Wimpergs, befindet sich in Stein gehauen ein Rosenzweig (Abb. 6). Nur eine
Rose oben in der Mitte ist voll erblüht, sonst zeigen sich Blätter, Knospen und Stengel. Diese
einfache Deutung des gehauenen Steins wird wohl jeder nachvollziehen können. Schwieriger
wird es, wenn wir nach der Sinndeutung dieser Rose fragen. Ist mit dieser erblühten Rose
Christus gemeint: "Es ist ein Ros' entsprungen"? Sicher sind wir nicht, aber möglich ist solch
eine weitere Bedeutung.
Schwerer haben wir es bei abstrakten Architekturformen. Sollen wir die Form der
Durchkreuzung von Lang- und Querschiff in Schopfheim ohne weiteres als symbolisch für
das Kreuz Christi deuten? Wir wollen uns Spekulationen dieser Art nicht bedenkenlos
hingeben.
Eine andere Frage aber mag hier interessieren. Warum bezieht sich Dürrn in Texten und
Formen im Zusammenhang der Schopfheimer Kirche immer wieder auf die Elisabethkirche
in Marburg und die Liebfrauenkirche in Trier? In seinen Schriften erklärt er dies zwar stets
mit dem ökonomischen Gesichtspunkt ("Bei dieser Stilwahl konnten die theuren Maßwerke,
die Bogenfriesgesimse, der durchbrochene Helm ausgeschlossen werden, ohne sich den
Vorwurf der Ärmlichkeit im Aussehen des Baues zuziehen zu müssen."), aber der Text klingt
auch nach Rechtfertigung. Denn es ist noch ein anderer Hintergrund denkbar. Steckt
vielleicht eine weitere Bedeutung hinter ihm?
Das deutsche 19. Jahrhundert kennt eine Gotik-Begeisterung zunächst in romantischer
Denkweise. Später wird der nationale Aspekt immer mehr hervorgekehrt. Der Weiterbau des
Doms von Köln ab 1842 wird zum Teil auch als Bau eines Nationaldenkmals aufgefaßt, nicht
nur als Kirche. Der Abschluß des Kölner Dombaus 1880 wird zu einem nationalen Fest.
Gleichzeitig setzen sich allmählich Erkenntnisse der Kunstwissenschaft durch: Der Kölner
Dom ist in Form und Detail doch weitgehend französisch bestimmt. Die nationalistisch
geprägte Architekturgeschichte sucht nach eigenständiger "deutscher" Gotik. Man stößt auf
die sehr originellen Bauten von Trier, Liebfrauenkirche, und Marburg, Elisabethkirche, und
empfindet diese als deutsche Alternative zum französisch bestimmten Kölner Dom.
140
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/mgl-1992-02/0142