http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/mgl-1994-01/0070
Im Gegensatz zu seinem Zeitgenossen Erasmus von Rotterdam (1469-1536) blieb
Brant sein Leben lang am Oberrhein. Bekanntermaßen liebte er die Unruhe von
Ortsveränderungen nicht.
Als "Mutter des Narrenschiffs" haben wir die Druckerei Bergmann von Olpe
bezeichnet. "Das Narrenschiff" gehört zu den frühesten bedeutungsvollen gedruckten
Büchern in deutscher Sprache. Wir dürfen nicht vergessen: Die Erfindung des
Buchdrucks mit beweglichen Metall-Lettern durch Gutenberg war zu diesem Zeitpunkt
nicht einmal ein halbes Jahrhundert alt. Und schon gelingt der Druckerei
Bergmann von Olpe in Basel ein Meisterwerk der Buchdruckkunst, das seinen Erfolg
nicht nur dem Inhalt, sondern auch seiner schönen äußeren Form und den außergewöhnlichen
Holzschnitten zu verdanken hatte - und damit auch Albrecht Dürer, der
sich zwischen 1492 und 1494 in Basel aufhielt und unter dessen Einfluß ein Großteil
der Holzschnitte entstanden.
Im zweiten Teil meines Aufsatzes möchte ich eine neue Prosaübertrasuns des 99.
Kapitels des "Narrenschiffs" vortragen, die in Wortwahl und Satzbau unserem
heutigen Sprachverständnis angepaßt ist. ohne dabei uns ungewohnte Wendungen
und Bilder zu "glätten". Das 99. Kapitel ragt in vielerlei Hinsicht aus dem gesamten
"Narrenschiff" heraus. Im letzten Teil meines Beitrags werde ich dies begründen und
die einzelnen Abschnitte des Kapitels näher erläutern. In meiner exemplarischen
Analyse möchte ich dabei historische Aspekte besonders hervorheben, das Kapitel
also vor allem als "Geschichtsquelle" untersuchen, ohne dabei sprachliche Aspekte
zu vernachlässigen.
Prosa-Übertragung des 99. Kapitels aus
Sebastian Brants "Narrenschiff"
Ich bitte euch, ihr großen und kleinen Herrscher:
Denkt an das Allgemeinw ohl! Laßt m i r die Narrenkappe allein!
Vom Verfall des Glaubens
1
Wenn ich jetzt an die Versäumnisse und Schandtaten im ganzen Land denke -
verursacht von Fürsten und Herren, in Ländern und Städten -, dann wird es
niemanden verwundern, wenn ich deswegen die Augen voller Tränen hätte: Es ist
schrecklich, wie der christliche Glaube abnimmt!
Man möge mir verzeihen, daß ich schon an dieser Stelle die Fürsten erwähnt habe.
Leider erkennen wir jetzt sehr deutlich die Notsituation des christlichen Glaubens,
der jeden Tag geringer wird.
II
Zuerst hat das Heer der Ketzer die Kirche zerrissen und zerstört. Dann hat der böse
Mohammed sie noch mehr verwüstet. Mit seiner Irrlehre hat er den christlichen
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