http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/mgl-1994-01/0088
Es geht bei Hebel vordergründig um Unterhaltung, hintergründig aber ums Nachdenken
. Das Nachdenken der Geschichte und das Nachdenken über die Geschichte.
Der Geschichte nachdenken, das meint, sie so zu lesen, als ob man sie selber erlebt
hätte und ob man genau so oder vielleicht doch anders gehandelt haben würde, wie
es der Hausfreund erzählt. Über die Geschichte nachdenken, meint zu fragen, was der
Hausfreund mit der Geschichte hat sagen wollen. Hebel wünschte sich und braucht
den nachdenklichen Leser.
Hebel wußte, daß auf die Lebensfragen der Menschheit keine endgültigen Antworten
möglich sind. Er maßt sich auch keine solchen Antworten an oder verkündet
Programme und Lebensregeln nach Art der Weltverbesserer und Ideologen. Aber er
stellt Wegweiser auf, zeigt, in welcher Richtung es langgeht, gibt Rat und Selbstvertrauen
, sät Zweifel und bietet im Handumdrehen Halt und Trost. Gelegentlich macht
er in den Geschichten mit einem "Merke!" darauf aufmerksam; manchmal wird es
aber auch nicht ausgesprochen und ist nur wie nebenbei in einer Erzählung oder
Anekdote enthalten. Der nachdenkliche Leser erkennt oder spürt es trotzdem.
Hebels Kalendergeschichten haben zweifellos einen nachhaltig guten Einfluß auf
das Zusammenleben und die Sitten ihrer Leser gehabt. Die Sittenlehren der Philosophen
und Theologen sind in der Regel für einfache Menschen gedanklich zu blutleer,
sprachlich zu trocken und nüchtern, darum langweilig, so daß sie die nicht erreichen,
für die sie gedacht sind. Hebel dagegen erreicht scheinbar mühelos alle Volksschichten
. In diesem Sinne sind die Erzählungen so gültig wie zu jener Zeit, als sie Hebel
geschrieben und eine markgräfler Mutter, ein Handwerker, Bauer, Bergwerksarbeiter
, Gemeinderat oder Postillon sie im Kalender des Rheinländischen Hausfreunds
das erste Mal gelesen hat.
Ich schließe mit einem "Merke!" Hebels aus der Erzählung "Drei Wünsche". In
dieser Erzählung geht es wunderlich zu. Ein junges Ehepaar, das "vergnügt und
glücklich lebt", hat es. sagt Hebel, wie viele Leute: "Wenn mans gut hat. hätt mans
gern besser". Eine freundliche Fee gewährt ihnen drei Wünsche. Ihr Glück scheint
grenzenlos, und in der Erwartung, reich zu werden, sind sie selig. Um die Vorfreude
recht genießen zu können, sparen sie ihre Wünsche vorläufig auf. Als der Frau am
nächsten Abend jedoch der Duft der Bratkartoffeln verführerisch in die Nase steigt,
sagt sie selbstvergessen und in aller Unschuld: "Wenn wir jetzt nur ein gebratenes
Würstlein dazu hätten". Und schon lag es da. Der Mann, über so viel Unverstand
erbost, läßt seinem Unmut freien Lauf, und ebenso unbedacht wie die Frau sagt er:
"Wenn dir doch nur die Wurst an der Nase angewachsen wäre!" Das war der zweite
Wunsch. Wohl oder übel mußten sie dann den dritten dazu verwenden, der Frau die
Wurst von der Nase wegzuwünschen. "Merke!" sagt Hebel: "Alle Gelegenheiten
glücklich zu werden, hilft dem nichts, wer den Verstand nicht hat, sie zu benutzen."
Und so geht's auch heute noch in der Welt. Nicht nur mit Wünschen oder mit
Bratwürsten.
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