http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/mgl-1994-01/0091
Durchaus im Stile einer Sonntagsschulgeschichte und logisch nicht eben überzeugend
ist, wie sich Napoleon mit seinem Begleiter im Hause der armen Obstfrau
einführt. Wer so aussieht wie Napoleon und so oft bei ihr gekauft hat, ja ihr sogar
einige Taler schuldet, den erkennt eine arme Obstfrau auch nach Jahren wieder. Der
Kalendermann, der sich sonst als aufmerksamer Beobachter mit gesundem Menschenverstand
versteht. Eigenschaften, zu denen er in zahlreichen anderen Erzählungen
seine Leser zu eigenem Nutz und Frommen ermutigt - hier versagen ihm diese
Eigenschaften die Gefolgschaft. Hebel überzeugt den Leser nicht: die Geschichte ist
an den Haaren herbeigezogen und zu schön, um wahr sein zu können. Sie gehört
jedenfalls in die Gattung der rührseligen Anekdoten, wo Kinder oder alte Mütterchen
als unverbildet-treuherzige Vertreter des Volkes die große Bedeutung und gottgewollte
Senduns eines Kaisers. Führers oder Präsidenten erkennen, oder wie er sich
ihnen in landesväterlicher Fürsorge zuwendet.
Solche Geschichten werden von ergebenen Anhängern oder eigens angestellten
Propagandisten in die Welt gesetzt, obwohl sie eigentlich niemand ernsthaft glaubt.
Das kannte man bereits aus dem alten Rom. Umso erstaunlicher ist es. daß sich Hebel
eine Geschichte dieser Art. die er kaum erfunden haben dürfte, zu eigen machte, sie
auf seine Art nacherzählte und 1809 in den "Rheinländischen Hausfreund" aufnahm.
Eine Glanzleistung des Kalendermannes zu eben dieser Zeit, in der andere Deutsche
wie Kleist. Arndt, die Jenaer Professoren. Stein. Scharnhorst. Gneisenau. E.T.A
Hoffmann, ja ganze Städte und Länder sich unter steter Lebensgefahr gegen Napoleons
Willkürherrschaft auflehnen und sich für die Befreiung Deutschlands vom
französischen Joch einsetzen - eine Glanzleistung ist die Erzählung von Napoleon und
der Obstfrau in Brienne jedenfalls nicht. Die "weltgeschichtliche Größe" Napoleons
mit Zügen "menschlicher Regung und Rührung" den badischen und deutschen Lesern
des Rheinländischen Hausfreundes ans Herz zu legen, konnte in dieser Zeit, gut zwei
Jahre nach der Niederlage Preußens bei Jena und Auerstädt, weiß Gott nicht die
Aufgabe eines Kalendermannes sein.
Wer Hebel wohlwill, sollte von dieser Erzählung kein Aufhebens machen. Sie
hinterläßt bei jedem Leser, der die geschichtlichen Zusammenhänge jener Jahre nur
einigermaßen kennt, auf dem liebenswürdig-gutartigen Bild, das sich die Nachwelt
von Hebel mit Recht macht, einen ansehnlichen Kratzer und zeigt den Kalendermann
von einer nicht gerade rühmlichen Seite.
Nachtrag:
Bei Friedrich Sieburg "Napoleon. Die hundert Tage", der sich, um Charakterzüge
Napoleons zu veranschaulichen, gern kleiner anekdotischer Begebenheiten bedient,
ist nirgendwo von einer Obstfrau in Brienne die Rede. Nach Sieburgs eingehenden
Schilderungen war Napoleon dreimal in Brienne: Zwischen dem zehnten und
fünfzehnten Lebensjahr als Kadett auf der Kriegsschule, dann fünfundzwanzig Jahre
später. 1805. auf seinem Weg nach Mailand und Ende Januar 1814. Damals war
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