http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/mgl-1994-02/0184
Diese bäuerliche Welt ist keineswegs idealistisch gesehen, denn in ihr herrschen oft
Besitzstolz. Geiz. Starrköpfigkeit und Aberglaube. Von außen drohen dann die
Gefahren der Armut und auch der "Schnapspest", die der Dichter in der Erzählung
"Wie fünf Mädchen im Branntwein jämmerlich umkommen" gegeißelt hat.
Der 1819 in Zürich geborene Gottfried Kellerist rund 20 Jahre jünger als Gotthelf
und steht zuerst noch unter dem Einfluß dieses Dichters. So ist seine Novellensammlung
"Die Leute von Seldwyla" ohne die Dorferzählungen des Emmentaler Pfarrers
kaum denkbar, obwohl ihr Thema ganz eigenständig ist. In diesem Seldwyla, einem
utopischen Ort in der Schweiz, wohnt eine Ansammlung von närrischen, eigenbrötlerischen
und selbstgerechten Käuzen, deren Verschrobenheit der Dichter entlarvt,
aber auch milde belächelt. Aus diesem Rahmen fällt nur die ergreifende und tragische
Novelle "Romeo und Julia auf dem Dorfe", wo die Landschaft des schweizerischen
Mittellandes in ihrer ganzen wunderbaren Farbenpracht beschrieben wird.
In dem größtenteils autobiographischen Roman "Der grüne Heinrich" steht der
junge Heinrich in einer großen Lebensgemeinschaft und besitzt ein festes Traditionsbewußtsein
. Im Laufe seiner Entwicklung wendet er sich von der Romantik ab und
begreift das Leben als Aufgabe, als Dienst an den Mitmenschen seines heimatlichen
Bereichs.
Diese feste Bindung an die Heimat zeigt sich auch in den "Züricher Novellen", welche
die Atmosphäre seiner Vaterstadt im 18. Jahrhundert meisterhaft einfangen.
Wir wenden uns nun von der Schweiz nach Deutschland, und zwar nach Westfalen.
Hier faßte Annette von Droste-Hülshoff'nach ihrer Schweizer Reise im Jahre 1838 den
Entschluß, ihre karge münsterländische Heimat dichterisch zu ehren. Sie entstammte
altem westfälischem Adel und wurde 1797 auf der bei Münster gelegenen Wasserburg
Hülshoff geboren.
Ihre "Bilder aus Westfalen" schildern die Landschaft, die Bauern. Sitten und
Gebräuche, den Volksglauben und die Rechtsverhältnisse ihrer weiteren Heimat.
Ihre Meisternovelle "Die Judenbuche" von 1842 ist - wie es im Untertitel heißt - ein
"Sittengemälde aus dem gebirgichten Westfalen". Hier wird eine Dorfgemeinschaft
gezeigt, in welcher der Wald- und Jagdfrevel an der Tagesordnung sind. In dieser
Novelle ist die Heimat in keiner Weise verklärt, sondern es wird ganz realistisch
dargestellt, wie "ein arm verkümmert Sein" in einer mehr oder weniger gesetzlosen
Umgebung aufwächst, schließlich zum Mörder wird und nach Jahrzehnten sich selbst
richtet und so seine Tat sühnt.
Der Roman "Bei uns zu Lande auf dem Lande" ist reich an meisterhaften Schilderungen
ihrer westfälischen Heimat. Hier stellt die Droste die Welt ihrer Eltern,
Geschwister und Bekannten dar, also den allerengsten menschlichen Bereich.
Fast ganz im heimatlichen Umkreis bewegen sich auch die Erzählungen des
Österreichers Adalbert Stifier. der 1805 zu Oberplan im Böhmerwald geboren w urde.
Nach dieser böhmisch-niederösterreichischen Landschaft um den Dreisesselberg und
mit Blick auf das Moldautal sehnt sich Stifter von Wien und Linz aus zeit seines
Lebens zurück. Dieses Land ob der Enns. das "Land der herrlichen Wälder", ist das
Land seiner Liebe, einer "heimlichen, sanft schmerzenden Rückliebe". Aus dieser
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