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anderen Juden abgeholt und im Synagogengarten unten am Klemmbach verbrannt
hätten. Das hat mir Eindruck gemacht, und da der Kantor Alperowitz 1933 oder
1934 einen Pflegesohn ungefähr meines Alters hatte, er hieß Kurt Herold, wollten
wir's auch machen. Wir haben also zusammen bei den Leuten den Chometz abge-
holt, bekamen dafür auch noch irgendeine Kleinigkeit geschenkt, organisierten
von unserem Keller auch noch eine gute Portion Kartoffeln und machten dann im
Synagogengarten ein großes Feuer. Damals durfte man das noch. Als die Glut
etwas heruntergebrannt war. brieten wir unsere Kartoffeln, und wer kam da vorbei
, um wegen des Feuers nach dem Rechten zu sehen? Onkel Hugo und sein
Kamerad Emil Heim! Zuerst machte ich ein langes Gesicht, da ich auf eine Abreibung
gefaßt war. Aber die beiden schwelgten in Erinnerungen und haben sich an
unseren Kartoffeln ergötzt. Zum Glück waren genügend da!
Der alten Sitte folgend, hat mein Opa an Erev Pesach. also am Vorabend,
gefastet und erst beim Seder wieder etwas gegessen. Am Seder, das Wort bedeutet
so viel wie ..Ordnung", wurde die Haggadah gelesen. Das ist die Geschichte vom
Auszug der Israeliten aus Ägypten, und sie wird so gelesen, als ob man sie jetzt
gerade miterleben würde. Denn es heißt in der Haggadah. ..es ist. als ob du dabei
warst". Obwohl wir zu diesem Zeitpunkt mit keinem Gedanken daran gedacht
haben, sollten diese Worte für uns wie eine Prophezeiung sein, denn bald danach
überstürzten sich die Ereignisse, und meine Mutter und ich mußten als erste der
Familie Müllheim verlassen.
Zum Zeremoniell des Seder gehört, daß vier Becher Wein getrunken werden.
Bei meinem letzten Seder in Müllheim durfte ich das auch, und ich erinnere mich,
daß ich mich dabei schon sehr „groß" fühlte. Im übrigen hat es an Pesach die
traditionellen Speisen gegeben: Natürlich Mazzen, das ungesäuerte Brot, Mazzen-
knödelsuppe. gepökeltes Rindfleisch, allerlei Gebäck, aber insgesamt gesehen war
der Speiseplan für die Pesachwoche doch eingeschränkt, da viele Speisen als
..nicht jontevtig" galten und die Großmutter alle Vorschriften streng einhielt. Auch
erinnere ich mich an einige spezielle Einkäufe, zu denen Großmutter mich schickte
. Beim Kaufmann Weiß mußte ich eine frische, versiegelte Packung Palmin
holen, ebenso eine versiegelte Packung Würfelzucker, von der Frau Maler Steffi
hinten im Hof wurden wir mit Margarine beliefert, die sogar streng koscher hergestellt
war. Doch eines hätte ich fast vergessen, dabei hat sie einen zentralen Platz
auf der Speisekarte eingenommen: die Gans!
Das ganze Jahr hat man schon auf sie gewartet, bis sie im Winter aus Straßburg
zu uns gebracht wurde, eine richtige gestopfte elsässische Gans. Meine Großeltern
hatten nie Gänse zum Stopfen selbst gehalten und deshalb einmal im Jahr eine
extra für Pesach eingekauft. Der Hauptgrund dafür war auch nicht so sehr das
Fleisch als vielmehr das Fett, das ausgelassen wurde und koscher für Pesach zum
Kochen und Braten aufbewahrt wurde. Eine große Delikatesse war das „gefüllte
Bündel". Gänsehals gefüllt und gekocht, und da die Gans nur einen Hals hat und
diese Delikatesse bei allen geschätzt war, mußte Großmutter redlich teilen. Aber
meiner Erinnerung nach waren doch die Grieben das Allerbeste. Diese gestopften
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