http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/mgl-1995-01/0137
ich vorausgesehen hatte. Es hat mich völlig geschunden. Wir fuhren sehr rasch über
Nancy nach Strassburg, vorbei an der Innenstadt, den Turm des Doms sahen wir nur
von weitem. Sofort nach der von Negern bewachten Brücke fing es an. als griffen
eiserne Klauen nach mir. Dieses noch so fromme, schöne, blonde, badische Land mit
seiner Einfalt, seinen alten Leuten, die noch unter dem Grossherzog gelebt hatten,
seinen einst so heiteren Städten und Dörfern verwüstet, starrend von Ruinen, in denen
die unterernährten Bewohner scheu, erschreckt, grenzenlos erniedrigt oder bereits
böse, heimtückisch, rachsüchtig ihrem armen Tagewerk nachgehen"6>.
Die Begegnung Kaschnitz-Burckhardt in Basel 1946 war teils "überwältigend"
(TB, 26.8.46), teils recht kühl. Möglicherweise gab es kontroverse Gespräche über
Burckhardts Rolle als wichtiges Mitglied des Internationalen Rot-Kreuz-Komitees
und über dessen bis heute diskutierte "diplomatisch-zurückhaltende" Einstellung in
bezug auf die Judenfrage während des Zweiten Weltkriegs7'. In den Aufzeichnungen
der Kaschnitz finden wir Hinweise, daß sie den großen Diplomaten als rückständig
und dem 19. Jahrhundert angehörig empfand: "Wie ein Herr von der Weltausstellung
in Paris. Elegant, distinguiert, weltfern (...) Herr von Hirsch, der Sammler, sein Freund.
Sonst ist er aber Antisemit, würde nie bei Juden kaufen. Keinen jüdischen Arzt haben"
(TB. 26.8.46). Burckhardt und seine Frau "kümmern sich um Lonja aus christlicher
Pflicht, aber auch aus Neigung. Aber sie finden, daß der Wohltäter Einspruchsrechte
habe. (Das Rauchen lassen. Man geht doch nicht ins Tessin im Sommer. Ein junger
Mensch ist doch nicht müde.)" (TB. 26.8.46). In späteren Jahren wandelte sich das
Verhältnis in gegenseitige Achtung. Zum 80. Geburtstag Carl J. Burckhardts 1971
widmete Kaschnitz ihm das Gedicht "Augen". Burckhardt bedankte sich mit einer
vorgedruckten Karte und einem handschriftlichen Zusatz. Er beteuerte, sich an den
Basler Abend erinnern zu können, "als wäre es gestern gewesen. Da ich Ihrem Werk so
nahe und bewundernd, ständig gegenüberstehe, scheint mir, wir hätten schon viel
miteinander geredet. In grosser Verehrung und Erkenntlichkeit - C J B"8). Vielleicht
deuten die folgenden Zeilen aus dem "Augen'-Gedicht die alte Distanz (seine "Blindheit
" - ihr begieriges Sehen) an. die sich dann in "Erlösung" auflöst: "Augen auch deine/
Lange schon weggesunken/ Mit keinen Augäpfeln mehr/ Mit alledem/ Unausdenkli-
chen/ Unter der Erde// Und meine/ Die ich aufschlage/ Immer wieder begierig (...)/ Sieh
mich an Fremder/ Den ich ansehe/ Auge in Auge/ Ohne Wimpernschlag/ Wie lange
schon/ Die Nacht/ Kommt über uns/ Die Nacht/ Erlöst" (V, 512 ff.).
Ort 2: Bachlettenstraße 15
"Es gibt jetzt einen Schnellzug nach Basel, es kann aber sein, dass Deutsche noch
immer in Weil herausgesetzt werden, dann fahrt Ihr mit der Bahn nach Lörrach-
Stetten u. geht ein Stück zu Fuss, Knäblein fahren das meist leichte Gepäck an die
graue Trambahn nach Basel. Ihr fahrt zur Pauluskirche, die Bachlettenstr. ist gleich
daneben". So beschrieb Marie Luise Kaschnitz in einer Postkarte an Dolf Sternberger
im Mai 1947 den Weg zur Wohnung ihrer Schwester Lonja. Seit 1938 wohnte diese
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