http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/mgl-1995-02/0134
Es gab auch Handwerker, die als Lismer (Stricker) auf die Stör (Arbeit) gingen.
Jeremias Gotthelf schrieb in seinem "Bauernspiegel": "Die Großeltern nahmen
zweimal im Jahr Schneider und Schuhmacher und im Herbst eine Lismerin auf die
Stoer; so erhielten die Geschwister an Kleidern und Schuhen auch ihren Teil" 141.
Dabei war das Stricken nicht immer gern gesehen: Über die Bewertung des
Gewerbes von Seiten der Händler bzw. der betroffenen Stricker ist wenig bekannt.
Doch aus den Reihen der Dorfbewohner beklagte sich um 1784 in Rümlang (Zürcher
Unterland) ein Müller über den "Mangel an Arbeitsleüthen. und sonderlichen
auch an Handwerksleüthen". Die Landwirtschaft und ihre Erträge gingen bereits
im 18. Jahrhundert zurück, da die Stricker neben ihrem Gewerbe kein Land mehr
bestellten. So bemerkte ein Statistiker: "Das Lismen lähmt die Hände".
Auch von öffentlicher Seite - von Pfarrern und Behörden - wurde das Stricken
weniger gern gesehen. Vor allem tadelte man die frühe Beschäftigung der Kinder.
Denn sie verleitete dazu, "daß häufig der Unterricht in dem. was den Mädchen in
späterer Zeit noth thut, des augenblicklichen Gewinnes wegen vernachlässigt
wird". In der Schweiz wurde eine starke Verbreitung des Analphabetismus unter
"Lismerkindern" beobachtet1?.
Die große Zahl gewerblicher Stricker, das Aufkommen der Zünfte in der Stadt
und die Industrialisierung führten zu immer schlechteren Bedingungen für die
hausindustriell Tätigen. Im Zuge der Industrialisierung kam immer mehr maschi-
nengestrickte Ware auf den Markt.
Um sich ihre Existenz dennoch zu sichern, waren insbesondere Arbeiter des
Textilgewerbes gezwungen, unmenschliche Arbeitsbedingungen in Kauf zu nehmen
, von 12-16 Stunden täglich ohne Sonntagsruhe. Der Arbeits- und Zeitdruck
belastete die gesamte Familie. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts ging das gewerbliche
Stricken von Hand enorm zurück. Es war nicht mehr konkurrenzfähig.
Allemal konkurrenzfähig blieb allerdings das Stricken für den eigenen Bedarf.
Im ländlichen Raum war es bis ins 20. Jahrhundert billiger, sich seine Socken
selber zu fertigen.
Schäfer strickten bei ihren Schafen auf der Weide. Neben dem wirtschaftlichen
Aspekt - in den derben Leder- oder Holzschuhen der Schäfer brauchte man auch im
Sommer Strümpfe - war es für diese sicher auch eine willkommene Nebenbeschäftigung
. Die Schäfer waren ja oft tagelang ganz allein mit ihren Tieren unterwegs.
In der bäuerlichen Familie spielte es schon bei Kindern eine große Rolle. Hier
wurde der Kindheit ja kein besonderer "Status" zuerkannt. Es ging vielmehr darum
, die Kinder so bald wie möglich in die Arbeitswelt der Erwachsenen integrieren
zu können. Die Mädchen wurden von der Mutter, älteren Geschwistern oder
weiblichem Personal in den Tätigkeitsbereich der Frau eingewiesen. Zu diesem
gehörte auch der Textilsektor.
So mußten auch die Kinder früh stricken lernen. Sie wurden von der Mutter,
Großmutter oder einem älteren Geschwisterchen angelernt. Eine 81jährige Frau,
gebürtig aus Degerfelden, erzählte, sie habe es mit sechs Jahren von ihrer Mutter
gelernt. Zunächst mußte sie natürlich nur das leichte Wadenstück eines Strumpfes
132
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/mgl-1995-02/0134