http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/mgl-1997-02/0070
1858 ein Gerichtsgebäude an der Bäumleingasse, das sich viel sachkundiger an
die italienische Palastarchitektur der Renaissance anlehnte als Riggenbachs frühe
Neurenaissance-Versuche. Ab den Sechzigerjahren entwarf Stehlin auch neubarocke
Villen in französischem Geschmack. Für die Synagoge von 1866 ff. wählte
man die Stilvorbilder aus dem maurisch-orientalischen Bereich. Den Gipfel archäologisch
fundierten Historisierens stellte die vom Züricher Ferdinand Stadler
entworfene Elisabethenkirche dar, die ähnlich wie die etwa gleichzeitig in Mülhausen
entstandene evangelische Stefanskirche ganz echt wirkende gotische Formen
aufweist, dabei sich aber doch noch so viel Freiheit gegenüber den Vorbildern
herausnahm, daß man nicht von unkreativem Kopieren reden kann.
Die Architekten bedienen nun die Bauherren mit allen gewünschten Stilen, wobei
sie im allgemeinen die Stilwahl mit kulturhistorischen Überlegungen begründen
. Für christliche Sakralbauten liegt der Rückgriff auf die Baukunst des Mittelalters
nahe. Stätten der Bildung ist eine renaissancistische, also in die Zeit des
Humanismus verweisende Architektur angemessen. Spätgotik kommt als Kunst
einer Blütezeit des Bürgertums auch für Rathäuser oder (s.o.) für ein Postamt in
Frage und so fort. Es kam aber durchaus auch vor, daß bedeutende Architekten
fiir ein und dasselbe Projekt einen neugotischen und einen Neurenaissance-Entwurf
vorlegten. Auch Stehlin schuf z.B. neben neubarocken Villen das neugotische
Geliert Schlößchen (abgebrochen).
In Freiburg wurde 1859-61 eine charmante, eindeutig anglisierende neugotische
Villa, das Colombi-Schlößchen, gebaut. Das war nun voll auf der Höhe der
Zeit, während das sich durch eine an Kargheit grenzende Zurückhaltung auszeichnende
Naturkundemuseum (1855/56, ursprünglich Schulhaus) noch eher dem biedermeierlichen
Geschmack der Zeit vor der Jahrhundertmitte entsprach.
Die Betrachtung der Bauten in unserer badischen Südwestecke aus den beiden
Jahrzehnten nach der Jahrhundertmitte soll mit der Würdigung eines eher unauffälligen
Behördenbaues aus dem Jahre 1866 begonnen werden.
In Schopfheim steht unmittelbar neben dem Weinbrennerstil-Rathaus (1826)
das ehemalige Amtsgericht (Abb. 12) von 1866. Der Bau läßt sich reibungslos
weder dem Spätklassizismus noch der Neurenaissance, schon gar nicht einem
anderen Neo-Stil zuordnen. Er weist zwar antikisierende Details auf (Palmette.
Rosetten. Zahnschnitt), daneben aber auch Formen, die mit den genannten Stilepochen
nichts zu tun haben: die Segmentbogen des Erdgeschosses (bei den Verdachungen
wieder mit dem kleinen Knick an den Enden), der neuartige Rillendekor
am Eingang und in den Brüstungsfeldern unter den Obergeschoßfenstern, der
gemütliche Rebrankenfries und der sich nicht mehr zum Tempelgiebeldreieck
schließende Frontgiebel. Man kann hier, angesichts dieser beachtenswert eigenständigen
Fassade den noch immer pauschal geäußerten Vorwurf, dem 19. Jahrhundert
habe es an schöpferischer Kraft gefehlt, sich von alten Stilvorbildern zu
lösen, kaum aufrechterhalten.
Auf der Hinterseite ist eine neue Fensterform zu entdecken: Der Sturz besteht
aus zwei schräg nach innen ansteigenden Hälften, so daß ein Fünfeckfenster ent-
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