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dem Herrn im Himmel danken sollst, daß er dir so viele Begabungen geschenkt
hat, dich behütet und nicht solche Armut hat leiden lassen (S. 3). Dankbarkeit
gegenüber Gott und Stolz auf die eigenen (menschlichen, religiösen, wirtschaftlichen
) Leistungen - das sind Haltungen, die für eine Autobiographie am Beginn der
Neuzeit typisch sind. Sie können vor allem auf dem Hintergrund der protestantischen
Ethik verstanden werden: Arbeit. Leistung und Erfolg „beweisen" dem
Menschen, daß Gott ihn in den Kreis der Auserwählten aufgenommen hat.5'
Vorspiel
Das Platter-Geschlecht hat seinen Namen von einem Haus auf einer breiten
Platte, das heißt einem Felsen auf einem sehr hohen Berg bei dem Dorf Grächen
(S. 4). Hier wuchs der kleine Thomas als Halbwaise auf.6' Der Vater war bald nach
der Geburt des Jungen gestorben, die Mutter heiratete wieder und kümmerte sich
kaum um ihren Sohn. Der sechsjährige Thomas wurde Geißenhirt, dann stieg er
zum Kuhhirten auf. Als Neunjähriger lernte er bei einem alten Dorfpfarrer die
Schrift. Die Erziehungsmethoden waren hart: Da erging es mir sehr schlecht, denn
der Herr war ein äußerst zorniger Mann, ich aber ein ungeschicktes Bauernbüb-
lein. Der schlug mich grausam, nahm mich oft bei den Ohren und zog mich von
Boden herauf, so daß ich schrie wie eine Geiß, die am Messer steckt (S. 10).
Thomas verließ - zusammen mit seinem Vetter Paul - als fahrender Schüler sein
Bergdorf und führte sieben Jahre ein Vagantenleben, das ihn wandernd, bettelnd
und stehlend - aber mit wenig ..Lernfortschritten" - bis nach Schlesien führte. Erst
in Schlettstadt. im Jahr 1521, als der Reichstag zu Worms stattfand, lernte Platter
die erste ordentliche Schule kennen. Doch unter den kleinen Kindern fühlt er sich
wie eine Gluckhenne (S. 25). In Zürich änderte sich sein Leben dann grundlegend:
Als Autodidakt brachte er sich Latein. Griechisch und Hebräisch bei. Am Fraumünster
hörte er Zwingli predigen, unter dessen Eindruck er sich nun endgültig
der Reformation anschloß. Und „nebenbei" lernte Platter das Seilerhandwerk, um
Gott und Zwingli zu gefallen - und um etwas Geld zu verdienen. Nun wollte ich
nach Basel ziehen. Es war vor Weihnachten. Da nahm ich Abschied von meinem
Meister. Am Morgen nahm ich mein Bündel, zog zum Tor hinaus, ging an einem
einzigen Tag bis Muttenz und von dort nach Basel (S. 34).
Szene 1:
Als Seilergeselle am Rindennarkt
Der 28-jährige Platter suchte in Basel ein neues Zuhause, eine neue Arbeitsstelle
und einen neuen Lehrmeister. Da kam ich zu Meister Hans Stähelin am Rindermarkt
(in der Gerbergasse 18). Man nennt ihn den „roten Seiler" und man sagt,
er sei der gröbste Meister, den man am Rheinstrom finden könne (S. 34).7) Und da
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