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Das Markgräflerland: Beiträge zu seiner Geschichte und Kultur
62.2000, Heft 2.2000
Seite: 95
(PDF, 34 MB)
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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/mgl-2000-02/0097
Nach diesem Buch sab es für Picard nur das Verstummen - oder aber den
Sprung in ein Neues, in die Positivität. Er fand sie auf der Suche nach jenen
älteren Gewissheiten, die im Laufe der menschlichen Fortschritts- und Emanzipationsgeschichte
verschüttet worden waren: fortan war Picards „Denken mit dem
Auge4* (Willem Enzinck) einer philosophischen Archäologie verpflichtet, der es -
fern jedem System und jeder Schule - um die „echten Wahrheiten" ging - jene
Wahrheiten, deren Kennzeichen es ist, „dass man sie nicht zum ersten Mal zu
hören, sondern sich ihrer zu erinnern vermeint"*. „Sie kommen"', so Joseph Roth
weiter in seiner kongenialen Besprechung von Picards „Das Menschengesicht""
(1930), „gleichsam aus der großen Schatzkammer der Wahrheit, in die wir einmal
alle - vor unserer Geburt - haben blicken dürfen, um sie sofort wieder zu vergessen
. Immerhin scheint uns dieser eine Blick die Fähigkeit geschenkt zu haben,
nach der Wahrheit zu suchen - nicht um sie als etwas Neues zu finden, sondern als
etwas Altes. Ewiges wieder zu entdecken. Daran allein ist zu erkennen, ob ein
Buch Wahrheiten mitteilt. Das Buch Max Picards teilt sie mit. Wie man etwas
Verschüttetes ausgräbt." Diese Suchbewegung nach dem Alten und Ewigen, den
Urphänomenen, wie Picard sie etwa in den Phänomenen Schweigen und Wort.
Ehe und Gott erkannte, bestimmte sein weiteres Werk, das die Krise und Gefährdung
des Menschen bzw. den Verlust seines ursprünglichen Bildes paradigmatisch
weiterführte - so am Beispiel der Physiognomie („Das Menschengesicht'*. 1930:
„Die Grenzen der Physiognomik". 1939). der Graphologie oder der Psychoanalyse
(„Einbruch in die Kinderseele'". 1955).

Galt Picards Interesse bis dahin vor allem einzelnen Disziplinen und Wirklichkeitsbereichen
, wandte es sich seit den dreißiger Jahren einer umfassende(re)n
Bestandsaufnahme unserer Kultur, ja einer Epochenbilanz zu, die im Phänomen
der „Flucht vor Gott"* als letztem Grund für eine aus der vorgegebenen Ordnung
gefallene, heil-los gewordene Welt kulminierte. Diese Formel, zugleich Titel eines
Buches von 1934, fasst alle Lebensäußerungen und Haltungen des heutigen Menschen
ins Bild einer großen zentrifugalen Bewegung, angetrieben von Existenzangst
und dem Bewusstsein der Leere. Hermann Hesse hat diesem Werk einen
„einsamen Rang unter den Büchern über die geistige und moralische Weltkrise*"
zuerkannt und es - indem er es gegen die Flut an schwatzhaften und unverantwortlichen
Zeitdeutungen abgrenzte - das „am meisten ernste und am meisten tröstliche
" Buch genannt. Doch dieses Tröstliche resultiert weder aus demonstrativer
Heilsgewissheit noch aus der ewigen Adventsstimmung missionarischer Bemühung
; es kommt vielmehr aus Picards Gewissheit, dass wir alle „mehr gerettet
(sind) als wir wissen", aus jenem „Mehr", in dem Picard den „Grund der Welt"
erblickt: „In jedem Ding der Schöpfung ist mehr, als es brauchte, um so zu sein,
wie es ist. Die Welt ist nicht nach dem Abgemessenen, gerade ausreichenden
eingerichtet, sondern aus der Fülle ... Am meisten von allem in der Schöpfung ist
das Mehr im Menschen" („Zerstörte und unzerstörbare Welt").

Dieser unverbrauchbare Reichtum in der Schöpfung und im Menschen wird vor
allem an den Urphänomenen sichtbar, denen die späten Veröffentlichungen Pi-

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