http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/mgl-2000-02/0098
cards gelten - „Die unerschütterliche Ehe'' (1942) und die bereits genannten Titel
„Die Welt des Schweigens", „Zerstörte und unzerstörbare Welt", „Der Mensch
und das Wort". In ihnen erhalten die Dinge nicht nur die Würde des Nicht-
Analysierbaren und Nicht-Deduzierten zurück; hier schöpft Picard auch selbst aus
eben dieser Fülle, aus diesem Mehr, und indem er es tut, stellt er einer auf Nützlichkeit
und Rendite berechneten, von der Idee des Machbaren beherrschten Welt
noch einmal das Bild einer ursprünglichen Schöpfungsordnung entgegen, antwortet
er ihr mit Bildern einer in sich selbst ruhenden theozentrischen Statik.
Das alles klingt, als denke Picard zuerst als Theologe. Picard war zwar ein homo
religiosus, um es mit den Worten seines engen Freundes Wilhelm Hausenstein zu
sagen, aber er war es nicht im konfessionellen Sinne. Weder redete er wie ein
Pfarrer noch predigte er. und wenn er von Gott sprach, versuchte er den Leser auf
keinen bestimmten Glauben einzuschwören. Gerade das Interesse, das Picards
Bücher in Japan fanden, zeigt, dass er mehr als Christentum meinte, wenn er
Religion sagte. Christlich an ihm mutet dagegen an, dass er mitunter bloßes Medium
zu sein scheint, so dass sich durch seinen Mund die alten Wahrheiten gewissermaßen
selber kund geben, und das ins A-Historische Weisende, die zeit-unge-
bundene Perspektive seines Denkens hat Kritiker von jeher zu Vergleichen mit
den Psalmisten und Propheten des Alten Testaments herausgefordert.
Nur aufgrund dieser Unbedingtheit ist der Eindruck möglich, Picard stehe mit
seinen Büchern nicht auf den Schultern von Wissenschaftlern und Philosophen,
sondern fuße direkt auf dem Boden aufgegebener und vergessener Wahrheiten.
Nicht, dass er sich geweigert hätte, die Wissenschaften zur Kenntnis zu nehmen -
doch er billigte ihnen allenfalls eine Stimmigkeit eigener Art und eine Geltung für
den heutigen „Restmenschen" zu. „Wohl soll der Mensch forschen, was unter dem
Bilde ist", schreibt er in „Zerstörte und unzerstörbare Welt", „aber er darf nicht
vergessen, daß über allem Schrecken des Erforschten das Bild der paradiesischen
Spur liegt". So bestritt Picard denn keineswegs etwa die Entdeckungen der Tiefenpsychologie
, wandte indes ein, diese würden nur sichtbar, „weil der Himmel darüber
fehlt, der sie sonst bedeckt hat... Fehlt der Himmel, so drängt die Hölle nach oben".
Picards spekulativer und kontemplativer Ansatz war gegen die analytische Zergliederung
und die empirische Blickverengung in den heutigen Wissenschaften
gerichtet und suchte durch die Urbilder und -phänomene wieder zum Geist des
Ganzen zu gelangen. So wenig diskursiv seine Antwort auf die Rationalität und
Logik der Wissenschaften daher ausfällt, so wenig ist ihm selbst „logisch" beizukommen
- entweder lässt man sich auf ihn und seine „Überwissenschaftlichkeit"
(Leopold Ziegler) ein - oder man verwirft sie. So wäre dieser „Restaurator" eines
vorgängigen Logos denn weniger als Denker denn als Seher (und Dichter) im
Sinne einer Verschmelzung von Dichtung und Wissenschaft zu bezeichnen: „Man
stelle sich etwa gesungene .Theorien' vor, gedichtete, und denke (...) an die mystischen
Schriften, in denen die Weisheit mit der Schönheit identisch ist" (Joseph
Roth). Was immer man gegen Picard vorbringen mag: dass die Welt seiner Bücher
a-historisch sei („Alles ist auf einmal da, es entwickelt sich nichts, es enthüllt sich
96
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/mgl-2000-02/0098