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schluss gebracht werden konnte, benötigten die beiden vertrauenswürdige Unterstützung
. Während Lotte Lenya sich vor den Behörden von einer Freundin vertreten
ließ, nahm Kurt Weill die Hilfe seiner Großcousine Selma Stern in Anspruch.'3'
Offenbar hatte Weill einiges Vertrauen zu seiner Verwandten, die damals in Berlin
lebte. Es ist zu vermuten, dass dieses nicht zuletzt auf dem seit zwei Generationen
bestehenden verwandtschaftlichen Zusammenhang zwischen Weills Familie und
derjenigen Selma Sterns gründete.
Ein erst vor kurzem wieder entdeckter Brief aus dem Jahr 1858 verweist gewissermaßen
als Indikator auf dieses Verwandtschaftsgefüge. Das in Müllheim ver-
fasste Schreiben reicht in die im ersten Viertel des 19. Jahrhunderts geborene Generation
der Großeltern von Weill und Stern zurück und belegt, dass schon damals
der Grundstock für ihre spätere persönliche Verbindung gelegt wurde.
Ein Rudiment jüdischer Existenz
Der Weg, den dieses Schriftstück aus dem ursprünglichen Besitz der Kippen-
heimer Familie Durlacher bis zur jetzigen Veröffentlichung nahm, ist nicht mehr
nachvollziehbar. Der Verfasser dieses Beitrags konnte den Brief im Juni 2003 als
Einzelstück im privaten Handel erwerben. Verkäufer war ein Briefmarkensammler,
der den Brief nicht wegen des Inhalts (den er gar nicht entziffern konnte), sondern
wegen der interessanten Briefmarke angeboten hatte. Da der Händler das Stück
seinerseits zuvor im Gesamtzusammenhang eines sehr umfangreichen Konvoluts
von Briefen (eben wegen der zahlreichen Marken) angekauft hatte, ist eine weiter
zurückführende Rekonstruktion heute nicht mehr möglich. Das Original des
Briefes ist inzwischen als Schenkung in die Dependance des Leo Baeck Institute
im Jüdischen Museum Berlin gegeben worden, um eine sichere Archivierung zu
gewährleisten (Sign.: LBI-2003/1).
Neben seinem Wert als Indiz für die Verwandtschaft der Familien von Selma
Stern und Kurt Weill wird man das vorliegende Dokument als rare alltagsgeschichtliche
Quelle aus der regionalen jüdischen Familiengeschichte betrachten
können. Dabei steht außer Frage, dass ein einzelner Brief nicht dazu ausreicht,
um komplexe historische Zusammenhänge aufzuklären. Allerdings ist festzustellen
, dass entsprechende Quellen aus der innerjüdisch-familiären Kommunikation
des südbadischen Landjudentums für das 19. Jahrhundert nur in sehr geringer
Zahl vorliegen. Der Historiker Ulrich Baumann hat für seine grundlegende und
umfassende Arbeit zum Zusammenleben von Christen und Juden in südbadischen
Landgemeinden für das 19. Jahrhundert auf Erinnerungsberichte, vor allem aber
auf amtliche Dokumente und Behördenschriftgut zurückgegriffen. Privatbriefe von
Jüdinnen und Juden als relevante alltagsgeschichtliche Quellen lagen ihm nicht
vor oder wurden von ihm nicht ausgewertet.141 Auch für die im letzten Jahrzehnt
vorgelegten Darstellungen jüdischer Landgemeinden in der Region konnten bei
der Bearbeitung des 19. Jahrhunderts keinerlei schriftliche Zeugnisse innerjü-
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