http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/mgl-2006-01/0108
Codex Carolinus spricht von der Bestellung eines Sakramentars durch Karl den
Großen bei Papst Hadrian (772 - 95). Es bestand der Eindruck, dass die Franken
sehr darum bemüht waren, ihre liturgischen Bücher so weit wie möglich zu roma-
nisieren. So kam 789 der Anstoß, den alten „gallikanischen" Choral auszusetzen
und den römischen, also Gregorianischen Choral über das gesamte Königreich zu
verbreiten. Immer wieder gab es konkurrierende Entstehungstheorien. So werden
beispielsweise die altrömischen Melodien als die älteren beurteilt, die Entstehung
der Gregorianischen Choräle wird jedoch in die Zeit von Papst Vitalian (657 - 72)
datiert. Die „römische Hypothese" setzt andererseits voraus, dass die gregorianischen
Melodien hauptsächlich in Rom entstanden sind, dass sie nur später nach
Norden gebracht wurden und dass sie dann in mehr oder weniger ungeänderter
Form dort übernommen wurden.
Aus anderen Quellen geht auch hervor, dass die Einführung des römischen
Chorals den Franken große Schwierigkeiten bereitete. Die Mönche mussten nicht
nur neue Melodien auswendig lernen, sondern auch ihre alten, herkömmlichen
ablegen. Nach dem Jahre 800 mehren sich die Hinweise für eine Annäherung der
einheimischen fränkischen Traditionen an den römischen Choral (7).
Die für die Musik folgenreichste Revolution ereignete sich zu Beginn des 10.
Jahrhunderts: Erstmals wurde Musik mittels Schriftzeichen notiert. Dadurch wurden
musikalische Abläufe fixiert, die bahnbrechenden Kompositionstechniken
konnten so verbreitet werden. Man darf vermuten, dass man also zwischen 750
und 900 völlig auswendig gesungen hat. Man hatte nur den Text. Jeder Tag hatte
praktisch seinen eigenen Text und seine eigene Melodie (8).
Diese ersten musikalischen Notationszeichen werden als „Neumen" (griechisch:
Wink) bezeichnet. Zunächst war diese neue Schrift noch uneinheitlich. z.B. in St.
Gallen, Metz, im spanischen Raum. Mitte des 11. Jh. präzisiert der italienische
Musiktheoretiker Guido von Arezzo die Notationsmöglichkeiten, er ermöglichte
dadurch die Unterteilung in Terzen, damit war eine genauere Festlegung des musikalischen
Verlaufs gegeben (7).
Es ist also davon auszugehen, dass die Neumen - diese Zeichen sind ohne Notenlinien
und stehen über den Textzeilen - entstanden sind, um den Gregorianischen
Choral schriftlich zu fixieren (gleichsam als Klangschrift, Abb. 4).
Grundsätzlich stehen sich in der Gregorianik zwei Melodien-Prinzipien gegenüber
; die Psalmodie, deren Melodie einem ungebundenem Prosatext folgt, und die
Hymne, deren musikalischer Verlauf durch Verse gebunden ist.
Das Kennzeichen der Psalmodie ist ein allmähliches Ansteigen und Fallen. Zunächst
war die musikalische Zuordnung der Worte syllabisch: Jeder Silbe war eine
Note zugeordnet. Doch um Gottes Lob noch intensiver gestalten zu können, wurde
der Gesang mit zusätzlichen Verzierungen versehen, so genannte Melismen, einer
Vörform der Koloratur. Ein Nebenprodukt dieser Melismen war übrigens das oft
gebrauchte Wort „Alleluja", Abb. 5.
Der Hymnus folgt musikalisch den Gesetzmäßigkeiten von Versen, die Grundmelodie
geht oft auf Volkslieder zurück. Die Hymnen stellen demnach den populären
Teil der liturgischen Gesänge dar - das Volk konnte mitsingen.
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