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aktiven Oberrheingrabens zu sensibilisieren und aufgrund der verlässlichen Einschätzung
des historischen Ereignisses Szenarien der möglichen Schäden zu konstruieren
. Da das Erdbebenrisiko bislang nicht versichert ist. wirbt der Schweizerische
Erdbebenpool um die Schaffung eines Versicherungsfonds auf Bundesebene
. Es geht darum, die Bundeskompetenz zu stärken und neu eidgenössisch geltende
Baunormen vorzugeben, während bislang nur zwei Kantone - das Wallis und
Basel-Stadt - solche Normen baugesetzlich vorschreiben'3. Im Lauf des Forschungsprojekts
wurden sämtliche verfügbaren schriftlichen Quellen zum Erdbeben
vom Oktober 1356 gesichtet und gewertet, ebenfalls wurden alle bislang mit
dem Erdbeben in Verbindung stehenden Baubefunde - das Münster und einige
Bürgerhäuser in Basel und Burgen in der Umgebung - archäologisch und bauhistorisch
bewertet. Auf dieser Grundlage nahm der Baustatiker quasi ex post ortsweise
eine Schadensbilanz nach der EMS-Skala vor. Schließlich versuchten die
Seismologen eine Neueinschätzung der Magnitude vorzunehmen, das ist die im
Herd des Epizentrums freigesetzte Energie14. Die Untersuchung im Dienst einer
historisch gestützten Risikoanalyse stellt für Historiker ein begrenzt interessantes,
aber gesellschaftlich wichtiges Vorhaben dar. Weiterhin bleiben mentalitätsgeschichtliche
Untersuchungen zu Wahrnehmung und Reaktionen der vom Unglück
betroffenen Menschen ein wichtiges Forschungsfeld, zu dem einige Beiträge vor-
liegen'\ Unser modernes Konzept der Katastrophenprävention ist denn auch im
Zusammenhang dieser Tagung ein ganz wesentliches Merkmal kollektiven Denkens
, indem es unseren Abstand zur Welt des Mittelalters markiert. Das Unheil im
irdischen Leben aus eigener Kraft abzuwenden, den Schäden prinzipiell vorzubeugen
, dem Unglück ohne Gottes gnädige Vorsehung zu entgehen, all das wäre für
damalige Christen undenkbar gewesen. Stattdessen richtete sich das von der Kirche
theologisch begründete und in weiser ökonomischer Voraussicht gelenkte Streben
der Menschen auf die Jenseitsvorsorge, die sich zu einer Haupteinnahmequelle
der Kirche entwickeln konnte16.
Seit Wilhelm Abel ist Historikern der Krisenbegriff geläufig - im Sinne der wirtschaftlichen
Krise der Agrarpreisdepression nach der demographischen Katastrophe
der Mitte des 14. Jahrhunderts1". Eine Forschungsdebatte kreist um die Krise
des Feudalismus und ihren Zusammenhang mit der so genannten Agrarkrise oder
Agrarpreisdepression1*. Neuerdings nimmt der .Dictionnaire du Moyen Age'19 im
Artikel ..Crise" eine radikale Dekonstruktion des von der historischen Forschung
benützten Krisenbegriffs vor: „Le terme de ,crise' est une notion vague et ambi-
gue. denuee de caractere scientifique. Son sens actuel emergea lentement dans la
seconde moitie du XIXe siecle (...) La fin du XXe siecle en fait un emploi immo-
dere qui acheve de le demonetiser"' (Der Begriff .Krise' ist eine unscharfe und
mehrdeutige Bezeichnung, ohne wirklich wissenschaftlichen Charakter. Er erhielt
seine heutige Bedeutung allmählich im Laufe der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
. Am Ende des 20. Jahrhunderts wird er übermäßig gebraucht, so dass er
schliesslich wertlose Münze ist.). So meint Alain Guereau. der inflationäre Gebrauch
eines inhaltlich diffusen Krisenbegriffs habe zu seiner völligen Entwertung geführt.
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