http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/mgl-2007-02/0271
(Dorothee Rippmann), auch am Exempel der „Rede über das Gerede" (Thomas
Zotz) vorführte.
Wahrnehmungs- und Erfahrungsgeschichte der von Krieg und Naturkatastrophe
direkt betroffenen Menschen wird sich mit vielerlei Handlungs- und Erlebnisebenen
auseinanderzusetzen haben, mit dem unmittelbaren Erfahren des Alltags im
Krieg mit seinen Geschehnissen und seiner Materialität ebenso wie mit den Auswirkungen
dieses Erlebens auf das Handeln und die Kommunikation von Individuen
, sozialen Gruppen und Gemeinschaften. Wie also lebten die durch direkte Erfahrung
physisch wie psychisch Stigmatisierten weiter? Welche religiösen Formen
und magischen Praktiken setzten Betroffene ein. um ihre Erfahrungen zu deuten
und zu bewältigen? Eine gerade erschienene Studie der Ethnologin Urte Undine
Frömming zur kulturellen Deutung und Verarbeitung von Naturkatastrophen in Indonesien
und auf Island zeigt. ..dass Menschen, die in der Nähe von gefährlichen
Orten in der Natur leben, diese in ihr religiöses Leben einbeziehen und einen speziellen
rituellen Umgang in Bezug auf diese Naturräume pflegen"1 . Endlich - wie
wurde das Extremereignis im kollektiven Gedächtnis der Nachgeborenen gegenwärtig
gehalten? Gedenken an Schlachten. Hochwasser und Großbrände allenthalben
in den Städten: Erinnerung an überstandene Kämpfe manifestierte sich ebenso
in der städtischen Chronistik wie in Mess- und Kapellenstiftungen, auch in Stadtfesten
. Stadtzerstörungen durch Großbrände wurden memoriert in der Bezeichnung
von Straßennamen. Überschwemmungskatastrophen haben ihre Zeichen in
durchaus religiös zu deutenden Hochwassermarken oder in Gedenktafeln an Rathäusern
hinterlassen. Im Basler Rathaus mahnt noch heute eine Tafel an die Bir-
sighochwasser von 1529/30'*. Freilich - es handelt sich bei solcher Erinnerung,
wie Klaus Graf zeigte, nicht um die Vergegenwärtigung des historischen Ereignisses
an sich - Hochwasser in Neuenburg 1525 (Jürgen Treffeisen) oder der burgundische
Landvogt Peter von Hagenbach (Claudius Sieber-Lehmann) -. sondern
um ..exemplarische" Erinnerung „an eine überstandene Gefahr oder den Opfermut
der Vorfahren"14 - mithin „der Hagenbach holt Dich".
Was die Kategorie Bewältigung von Extremereignissen angeht, so hat die bisherige
Forschung die Zusammenhänge zwischen deutender Wahrnehmung und den
sozialen, wirtschaftlichen, politischen und städtebaulichen Neuanfängen kaum thematisiert
. Die Fragen und Probleme, die sich um solche Neuanfänge im Zeichen
der Bewältigung von Kriegen und Naturkatastrophen, auch Seuchen, ranken, sind
vielfältig: Da gab es die .Babybooms" besonders nach Kriegen, die demographisch
messbar. aber kulturanthropologisch noch nicht erklärt sind. Da gab es das eigentümliche
Phänomen, dass die Euphorie oder Lethargie der Überlebenden in eine
kulturelle Neudefinition umkippte: in eine Welle furchtbarer Sühn- und Strafwut
etwa, der Prostituierte. Hexen. Ketzer. Juden etc. zum Opfer fielen, oder in bislang
wenig untersuchte urbanistische Neuanfänge wie im Deutschland nach 1945, wo
die städtische Vorgeschichte vielfach ausgelöscht und durch eine radikale gesellschaftliche
Neudefinition in Stadtgestalt und Lebensform ersetzt wurde:<l. Da kam
es unter dem Eindruck von tiefgreifenden Kontingenzerfahrungen zu Verände-
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