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Gläslein Wein dazu bescheren wollt, um Gottes Willen, so könnt ich's freilich
besser verdauen." Wenn aber die Wirthin sagte: „Aber, frommer Pil-
gram, eine solche Suppe kann Euch doch unmöglich Kraft geben!" So antwortete
er: „Ei, wenn Ihr anstatt des Wassers wolltet Fleischbrühe dazu nehmen
, so wär's freilich nahrhafter." Brachte nun die Wirtin eine solche Suppe
und sagte: „Die Tünklein sind doch nicht so gar weich worden," so sagte er:"
„Ja, und die Brühe sieht gar dünn aus. Hättet ihr nicht ein paar Gabeln voll
Gemüs darein oder ein Stücklein Fleisch, oder beides?" Wenn ihm nun die
mitleidige Wirthin auch noch Gemüs und Fleisch in die Schüssel legte, so
sagte er: „Vergelt's euch Gott! Gebt mir jetzt Brod, so will ich die Suppe essen
." Hierauf streifte er die Ärmel seines Pilgergewandes zurück, setzte sich
und griff an das Werk mit Freuden, und wenn er Brod und Wein und Fleisch
und Gemüs und die Fleischbrühe aufgezehrt hatte bis auf den letzten Brosamen
, Faser und Tropfen, so wischte er den Mund am Tischtuch oder an dem
Ärmel ab, oder auch gar nicht, und sagte: „Frau Wirthin, Eure Suppe hat
mich rechtschaffen gesättigt, so daß ich die schönen Kieselsteine nicht einmal
mehr zwingen kann. Es ist schade dafür! Aber hebt sie auf. Wenn ich
wieder komme, so will ich Euch eine heilige Muschel mitbringen ab dem
Meeresstrand von Ascalon oder eine Rose von Jericho."
Drum hüte dich; nicht das Gewand macht den Pilgrim, sondern der fromme
Sinn, und eine Sünde ist es dasselbe zu mißbrauchen.
Anmerkung:
Diese Geschichte aus dem Jahr 1808 stammt aus dem „Schatzkästlein des Rheinischen
Hausfreundes." Die Illustration dazu ist einer Ausgabe von 1859 entnommen
. Sie zeigt den Pilger in klassischer Ausrüstung mit Pelerine und daran angebrachter
Muschel. Am Stuhl hängt der breitkrempige Hut und in der Ecke lehnt der
Pilgerstab mit Kürbisflasche. Gut hat er sich verkleidet, dieser Landstreicher! Was
Hebel nicht mehr vertraut war, dass die Muschel nicht ein Pilgersymbol der Heiliglandpilger
, sondern der Jakobspilger war.
Ob dieser „Pilgrim" auf seinem weiteren Weg wohl auch an Wintersweiler vorbeikam
? Eher nicht, wählte er doch den kürzeren Weg über Mauchen!
Das Ende der großen Pilgerzeit
Bedingt durch die Reformation und die in Spanien einsetzende Inquisition verliert
die Pilgerreise nach Santiago de Compostela mit Beginn der Neuzeit ihre Bedeutung
. Zweifel an der Echtheit des Grabes und die Tatsache, dass immer mehr
Landstreicher die Privilegien der Pilger ausnutzten, taten ihr Übriges. So bedeutet
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