http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/mgl-2009-01/0157
Leute aus dem Volk brüllten Hassparolen und konnten es kaum erwarten, den
Feind zu vernichten. Mit Bajonetten, Handgranaten oder zur Not auch mit dem
Spaten. Ein Mädchen sagt: „Unvorstellbar, heute!"
Damals: Die jungen Männer beider Nationen schlachteten sich ab. Vier Jahre
lang. Zunächst viele begeistert. Dann resignierend. Manche verzweifelnd. Giftgasschwaden
, Graben, Gräber. Brutaler Kampf. Nicht in exotischen Weltgegenden.
Mitten in Europa. Grenzland. Niemandsland. Nachzulesen in den Geschichtsbüchern
.
Heute werben Wanderprospekte in zwei Sprachen: „La Ligne bleue des Vosges,
die blaue Linie der Vogesen. Im Herzen Europas. Geschichte und Kultur einer
Grenzlandschaft." Werbung, auch hier oben, am „Berg des Todes".
Die Prospekte liegen beim Busfahrer aus. Später flattern sie als Papierflieger
durch den Bus ... Man diskutiert mit den Lehrern. Noch entschiedener jetzt die
Vorbehalte. „Aber das war doch alles vorgestern", sagt einer nochmals. Und: „Später
, im Zweiten Weltkrieg, hat es in den Vogesen noch Schlimmeres gegeben: Gaskammern
im KZ Struthof. Mord an Zivilisten. Warum fahren wir da nicht mal
hin?" Und: Die Massen seien heute mit Nationalismus nicht mehr zu begeistern.
Hassparolen gebe es nur bei fanatisierten Randgruppen. Überhaupt: Die kleine
Welt von damals! Das alte Europa! Auch die Welt von heute sei klein, behauptet
jemand. Das Töten finde heutzutage in den Medien statt. Weit weg. In Afrika oder
Asien. Der Terror dort werde unter dem Dach der UNO von Franzosen und Deutschen
gemeinsam bekämpft. Weiter: „Grenzland" sei im Computer nur eine virtuelle
Größe. Um Grenzen werde heute real nicht mehr gestritten. Der Feind werde
im übrigen nicht gehasst, sondern nur vernichtet. Der Lehrer hebt resignierend die
Schultern. „Da geht einiges durcheinander." Das müsse man im Unterricht strukturieren
. Später. Der vorgegebene Zeitplan für heute sei längst überschritten. Man
müsse sich beeilen.
Der Elsässer mischt sich wieder ein. Er hat genügend Zeit, erzählt gern, steigt kurz
mit in den Bus. Nimmt das Mikrofon, erzählt den jungen Deutschen, dass er und seine
Verwandtschaft mehrmals in kurzer Zeit die Nationalität wechseln mussten. Die
alten Fotos bei ihm daheim an der Wohnstubenwand zeigten Vater, Sohn und Enkel
in verschiedenen Uniformen. Mal zeigen sie einen Deutschen, mal einen Franzosen.
Er selbst sei gezwungen worden, dem „Führer" vor Stalingrad zu helfen, den Krieg
zu verlieren. Aber zum Schluss habe er ihn als Franzose doch wieder gewonnen. Die
Elsässer seien als „heimgeholte Provinz" eben immer Sieger gewesen. Grenzerfahrungen
. Das Elsass als Kind zweier Väter und Mütter. Er lacht...
Die Schüler lachen auch. Der fröhliche alte Mann beeindruckt sie mehr als die
zackige Parade der Militärs. Die finden sie „komisch", manche sogar „ätzend". Einige
fragen, ob man nicht gleich in die Stadt, nach Colmar, fahren könne. Zum
Shopping. Der angesprochene Lehrer runzelt die Stirn. Es gebe noch mehr Gipfel
des Todes in den Vogesen.
Ein paar dösen auf der Weiterfahrt. Der Bus rollt auf historischem Boden: der
Vogesenkamm, einstmals eine Militärstraße. Hier in der Nähe verlief früher die
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